Protest in Chinas Hauptstadt Peking: Eine Unterstützerin des blinden Bürgerrechtlers Cheng Guangcheng wird von Polizisten festgesetzt. Der Grund: Sie hatte vor einem Krankenhaus, in dem der Dissident nach seiner Flucht aus dem von der Regierung verordneten Hausarrest behandelt wurde, ein Plakat hochgehalten. Darauf war unter anderem zu lesen: "Ich will essen, ich will leben." Foto: dpa

Die Menschenrechte sollen die Bürger über auf der Welt schützen: Doch gelten sie wirklich für jedermann?

Am 26. Mai findet in Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan, der Eurovision Song Contest statt. In dem diktatorisch regierten Land werden Menschenrechte mit Füßen getreten. Ähnliches gilt für die Ukraine, wo am 8. Juni die mit Polen ausgetragene Fußball-EM beginnt. Und für China, für Syrien, für Bahrain. Die Liste ließe sich fortsetzen. Auch in Deutschland gibt es immer wieder Debatten über die Auslegung der Menschenrechte. Ein Grund aufzuzeigen, was den Menschen laut UN-Charta zusteht.

Tausende Anhänger warten am 13. November 2010 gespannt vor dem Haus von Aung San Suu Kyi – als diese endlich aus der Türe tritt. Die zierliche Frau wirkt ruhig und erleichtert. Der jubelnden Menschenmasse ruft sie zu: „Ich habe euch viel zu erzählen.“ Jetzt hat sie dazu wieder die Möglichkeit.

Obwohl sie 1990 die Wahlen in ihrem Heimatland Birma gewonnen hatte, verbrachte Aung San Suu Kyi 15 der vergangenen 21 Jahre im Gefängnis oder unter Hausarrest. Die Militärjunta, die in Myanmar – wie sie das Land in Abgrenzung zur Kolonialzeit nennt – an der Macht ist, erkannte ihren Sieg nicht an. Und sie nahm ihr wichtige Menschenrechte: das Recht auf Freiheit und das Recht auf politische Teilhabe.

Seit ihrer Entlassung hat sich für die friedliche Rebellin und für ihr Land viel verändert. Anfang Mai dieses Jahres legte sie ihren Eid als Parlamentsabgeordnete von Myanmar ab.

Viele Gefangene warten in Guantánamo Bay noch immer auf einen Prozess

Aung San Suu Kyi hat ihre Rechte wieder. Am anderen Ende der Welt sitzen dagegen noch immer rund 170 Männer in grell orangefarbenen Overalls im US-Gefangenenlager Guantánamo Bay auf Kuba in Haft – Terroristen seien sie, so die Argumentation des ehemaligen amerikanischen Präsidenten George W. Bush. Die ersten Häftlinge wurden unter seiner Regierung 2002, kurz nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York in das Lager gebracht. Viele Gefangene sind seitdem dort und warten noch immer auf einen Prozess.

Eigentlich sollten die Menschenrechte genau vor solchen Übergriffen und Einschränkungen schützen. Doch wenn sie dazu anscheinend nicht in der Lage sind: Wozu sind sie dann gut?

Der Schock des Zweiten Weltkriegs saß tief

Verkündet wurden die allgemein gültigen Menschenrechte 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Der Schock des Zweiten Weltkriegs saß bei den Mitgliedern des Gremiums tief. Die fundamentalsten moralischen Gesetze waren brutal verletzt worden: Medien wurden gleichgeschaltet, Wahlen manipuliert und Millionen Menschen wegen ihres Glaubens verfolgt oder getötet. So etwas sollte sich niemals wiederholen.

Grundlagen für eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte fanden sich in der Geschichte genug. Von einem natürlichen Recht, das sich allein aus dem Menschsein ableitet, sprachen bereits die griechischen Philosophen Platon und Aristoteles. Allerdings galten für sie und noch lange Zeit nach ihnen nur männliche Bürger als Träger von Rechten – von Universalität war man damals noch weit entfernt. Auch die Philosophen der Aufklärung wie der Engländer John Locke oder Immanuel Kant bereiteten mit ihren Texten über die Freiheit und wie diese vom Staat gewährleistet werden muss den Weg für die Menschenrechtsidee.

Rechte, die den Einzelnen vor Übergriffen der Politik schützen

In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 wurden Menschenrechte zum ersten Mal in eine Verfassung geschrieben. Noch im selben Jahrhundert folgten diesem Beispiel die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, eine Errungenschaft der Französischen Revolution, und die amerikanische Bill of Rights, die ersten zehn Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung.

Das Besondere an den Regeln für den Umgang mit Menschen, wie wir sie heute kennen, ist, dass es Rechte sind, die den Einzelnen vor Übergriffen der Politik schützen. Alle 193 Länder, die Mitglied der Vereinten Nationen (UN) sind, haben sich durch ihren Beitritt zum Staatenbund automatisch verpflichtet, die Menschenrechte in ihren Rechtssystemen zu schützen.

Die Menschenrechte sind aber kein abgeschlossenes Regelwerk, sie werden immer wieder ergänzt. Zuletzt wurde das Recht auf Zugang zu sauberem Wasser am 28. Juli 2010 von der Generalversammlung in die Menschenrechtscharta aufgenommen. Doch das bringt den weltweit rund 884 Millionen Menschen, die kein sauberes Wasser haben, wenig. Das Problem der Menschenrechtscharta ist: Sie ist nur eine Resolution der Generalversammlung – und kein völkerrechtlicher Vertrag. Kein Staat kann dazu gezwungen werden, sich daran zu halten.

Völkerrechtliche Verträge

Gelöst wird dieses Problem bei vielen Menschenrechten durch völkerrechtliche Verträge, die bestimmte Bereiche der Erklärung konkretisieren. Etwa der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte oder der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Diese Verträge sind rechtlich bindend – sie müssen von den Unterzeichnerstaaten eingehalten werden. Für das Recht auf Wasser gibt es so einen Vertrag nicht. Noch nicht.

Auch wenn zahlreiche Pakte und Abkommen die Staaten im Prinzip dazu verpflichten, die Menschenrechte ihrer Bürger zu wahren, ist dies nicht die Praxis aller Regierungen. Das zeigt ein Blick in die Tageszeitungen dieser Welt und in Berichte der UN.

„Thema Gleichberechtigung von Mann und Frau stärker in den Vordergrund gerückt“

„In allen Ländern gibt es unterschiedliche Interpretationen der Menschenrechte und immer wieder Versuche, einzelne Menschenrechte in den Hintergrund zu drängen“, sagt Tom Koenigs, Vorsitzender des Ausschusses für Menschenrechte im Bundestag. Das sei aber kein östliches oder westliches Phänomen, so der Grünen-Abgeordnete. Es gebe immer Staaten, die die Menschenrechtssituation nicht so wichtig nehmen.

Trotz solcher Rückschläge, gebe es auch Bereiche, in denen es vorangeht. „Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist ein Thema, das stärker in den Vordergrund gerückt ist – vor allem in den nichtmuslimischen Staaten“, sagt Koenigs. Auch in den muslimischen Staaten seien Fortschritte zu erkennen, aber es gehe langsam voran. „Das zeigt, dass ein zentrales Feld der Diskriminierung zumindest in Bewegung kommt.“ Dasselbe gelte für die Rechte von Behinderten.

Fortschritte am Beispiel an der Situation in Myanmar sichtbar

Auch Markus Löning, Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung, sieht Fortschritte bei der weltweiten Durchsetzung der Menschenrechte. „Das sieht man zum Beispiel an der Situation in Myanmar“, sagt der FDP-Politiker. Dass sich die Lage dort in den vergangenen Monaten verbessert hat, hänge stark mit dem Einsatz der Nachbarländer zusammen, die Position bezogen und gesagt haben: Es sei nicht mehr akzeptabel, wie es in Myanmar zugeht.

In der Ukraine bewege sich auch etwas. „Es mag sein, dass vieles durch die Aufmerksamkeit wegen der Europameisterschaft geschieht, aber das muss nicht negativ sein“, sagt Löning. Diese Aufmerksamkeit führe immerhin dazu, dass der Druck auf die ukrainische Regierung verstärkt würde. Die Bundesregierung habe sich auch vorherdafür eingesetzt, dass Timoschenko und die anderen inhaftierten Oppositionspolitiker medizinisch richtig versorgt werden und dass faire Prozesse stattfinden. Doch das sei bei weitem nicht so wahrgenommen worden, wie es jetzt der Fall ist.

Menschenrechte heute besser geschützt als noch vor 30 oder 40 Jahren

Öffentlichkeit ist ein wichtiger Aspekt, wenn man für Menschenrechte kämpft, der oft unterschätzt wird. Bei seiner Tätigkeit als Menschenrechtsbeauftragter besucht Löning auch inhaftierte Aktivisten. „Ich erlebe oft, dass Dissidenten in China oder in osteuropäischen Ländern sagen: Ihr glaubt gar nicht, was für eine Wirkung eure öffentlichen Äußerungen haben.“

Trotz aller Missstände sind die Menschenrechte heute besser geschützt als noch vor 30 oder 40 Jahren. Zu den positiven Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte zählen beispielsweise die regionalen Systeme zum Schutz der Menschenrechte, die zusätzlich zu den internationalen Menschenrechtsverträgen in Europa, Amerika, Afrika und zuletzt in den arabischen Staaten geschaffen wurden. Diese Abkommen dienen dazu, auf nationale Eigenheiten der Staaten und Regionen einzugehen. „Man hat in der Dritten Welt einen Schwerpunkt auf dem Recht auf Entwicklung, auf den kollektiven und auf den wirtschaftlichen Rechten. Auch weil sie dort viel stärker fehlen als beispielsweise bei uns“, betont der Ausschussvorsitzende und ehemalige Sonderbeauftragte der UN, Tom Koenigs. Die regionalen Menschenrechtserklärungen bieten außerdem eine zusätzliche und erweiterte Verbindlichkeit: Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beispielsweise sind für die Mitgliedstaaten rechtlich bindend, müssen also befolgt werden.

„Die Menschenrechte sind kein westliches Produkt“

Egal aus welchem Land ein Mensch stammt, welchen Geschlechts er ist oder welchen Glauben er hat – jeder hat die gleichen Menschenrechte. Kritische Stimmen behaupten allerdings, dass diese universell geltenden Rechte nur die Macht der westlichen Staaten in der Welt sichern sollen, dass die Menschenrechte ein Fabrikat der westlichen Kultur seien und somit nicht auf Menschen in Asien, Afrika oder Südamerika anzuwenden sind.

„Die Menschenrechte sind kein westliches Produkt“, erklärt Tom Koenigs. „Chinesische Intellektuelle und Wissenschaftler waren an der Entstehung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in den UN genauso beteiligt wie arabische.“ Man könne keinem Aktivisten aus China oder Demonstranten in Tunis sagen: Ihr setzt euch für Menschenrechte ein, aber das ist etwas Westliches.

Auch der Menschenrechtsbeauftragte Markus Löning weist diesen Vorwurf zurück. „Interessanterweise kommen solche Aussagen sowohl von afrikanischen Despoten als auch von obskuren religiösen Führern.“ Solche Vorhaltungen seien eigentlich immer die Antwort derjenigen, die andere unterdrücken wollten. So, wie es das Militärregime von Myanmar bei Aung San Suu Kyi versucht hat. Doch hier haben die Menschenrechte gesiegt.