Annabelle Haas und Christian Flätgen über dem Neckar Foto: Haus der Geschichte BW/privat

Stuttgart und der Neckar, das ist ein sehnsuchtsvolles Trauerspiel. Der Fluss macht es auch Bewohnern zwischen Schwenningen und Mannheim nicht immer leicht – die Liebe zum Wasser und noch viel mehr zeigt das Digitalprojekt „Menschen am Neckar“ vom Haus der Geschichte.

Stuttgart - Früher war nicht alles besser. Trotzdem ist es eine schöne Vorstellung, dass sich die Menschen hierzulande an heißen Tagen einst einfach die Kleider vom Leib rissen und in den Neckar sprangen. Sie mussten nicht an den Bodensee fahren, sondern hatten die Sommerfrische direkt vor der Tür. Heute ist zwar nicht alles schlecht, aber wenn Annabelle Haas mit ihren Freunden mal wieder in die Hessigheimer Felsengärten zum Klettern geht und von oben herab auf den Flusslauf schaut, wird die Idylle immer wieder gestört und „fährt ein viel zu langes Containerschiff vorbei“.

 

Der Fluss war stets Teil der Identität

Annabelle ist eine von vielen Menschen, die irgendwo zwischen Schwenningen und Mannheim am und mit dem Neckar leben und ihre persönliche Geschichte über den Fluss ins Netz gestellt haben. Denn das Haus der Geschichte Baden-Württemberg hat seine Ausstellung über den Neckar erweitert um ein Digitalprojekt. „Menschen am Neckar“ heißt es, ebenso wie die dazugehörige Plattform Menschen-am-Neckar.de, auf der jede und jeder Erlebnisse, Begegnungen, Erinnerungen einspeisen kann über den Fluss, der an der Identität der Region einen großen Anteil hat.

Neckarzeit in Tübingen

Liest man die Kommentare, staunt man allerdings, wie distanziert das Verhältnis wirkt. Die einen denken an Spaziergänge, die sie hier unternommen haben, andere an einen „unbeschreiblich schönen Sommertag und einen Ort, der mich friedlich stimmt“ oder an die „Neckarzeit“ einst in Tübingen. Auffallend oft geht es um Freizeitvergnügen und Ausflüge ins Grüne. Das ist bemerkenswert, denn über Jahrhunderte haben Flüsse das Leben der Menschen auf vielerlei Weise geprägt. Sie waren eng verbunden mit ihren Gewässern – selbst wenn es nur ein kleines Flüsschen war wie der Nesenbach, der in Stuttgart Mühlen antrieb und Müllgrube war für Küchenabfälle, Pferdemist und den Inhalt des Nachttopfs. Übeltäter wurden zur Strafe übrigens in einem „Gießhübel“ ins Wasser getunkt.

Im Sportunterricht standen Dammläufe ums Kraftwerk an

Wie viel intensiver müsste da doch eigentlich die Verbundenheit mit dem stattlichen Neckar sein, auf dem schon vor knapp tausend Jahren Flößer Holz aus dem Schwarzwald nach Holland transportierten?

Anna aus Bad Cannstatt fallen beim Stichwort Neckar wilde Partys im Ruderclub Cannstatt ein und Ausflüge auf der Berta Epple. Weniger beliebt seien die Dammläufe um das Kraftwerk Münster gewesen, die sie im Sportunterricht machen musste.

Radeln, radeln, radeln – 367 Kilometer

„Schade fand ich immer, dass Stuttgart es nie geschafft hat, den Fluss mehr ins Leben der Menschen zu integrieren“, schreibt sie – und bringt das Dilemma des Neckars auf den Punkt. Denn er ist heute vor allem Energielieferant und Transportweg. Naturerlebnis und Naherholung sind dagegen an vielen Stellen ins Hintertreffen geraten. Der Ausbau zur Großschifffahrtsstraße begann bereits vor hundert Jahren – was mit starken Eingriffen in die Landschaft verbunden war, etwa an der Schleuse Hessigheim und der Neckarschleife Mundelsheim.

Früher reichte das Wasser bis an die Weinberge heran

Aber die Umbauten hatten auch ihre Vorteile – während das Wasser ursprünglich oft bis an die Weinberge heranreichte, hat das Flussbett heute Abstand zugunsten von Wegen. So kann man 367 Kilometer am Neckar entlangradeln zwischen der Quelle in Schwenningen und der Mündung in Mannheim. Auch Ugur, ein gebürtiger Hannoveraner, der in Besigheim lebt, radelt oft und gern am Wasser entlang oder fährt mit dem Neckar-Käpt’n von Marbach nach Besigheim. „In diesen drei Stunden hat man genug Zeit, sich alles in Ruhe am Fluss entlang anzuschauen.“ Sein Fazit ist fast symbolisch für die Distanz, die der moderne Mensch zu seinem Fluss zu haben scheint: Weinberge, Landschaft und Neckar ergäben „ein schönes idyllisches Bild wie von einer Postkarte“.

Menschen sind heute wichtiger als die Natur

Friedrich Hölderlin dagegen besang sogar in Gedichten seinen Neckar – „In deinen Tälern wachte mein Herz mir auf“.

Heute sind es die Begegnungen, die die Menschen mit dem Fluss verbinden. So haben zwei Werklehrer aus Rottweil 2007 mit Schülern, Künstlern, Stadtverwaltung und Jugendfeuerwehr einen Kunstweg organisiert, Bürgermeister und Landrat hielten die Eröffnungsreden – und plötzlich verband der Neckar die Menschen auf ideale Weise.

Es sollen noch mehr Güter auf dem Wasser transportiert werden

„Ich denke an eine grünere Zukunft“, heißt es an anderer Stelle des Internetportals. Auch wenn viele Beiträge die Entfremdung des modernen Menschen spiegeln, so lassen sie doch auch die ewige Sehnsucht ahnen, dem Wasser und der Natur wieder näher sein zu können. Vielleicht bringt das Projekt „Menschen am Neckar“ ja neuen Schwung in die Debatte über die Renaturierung des Neckars, der allerdings auch sehr wichtig ist für den Transport von Gütern und damit die Straßen entlastet. Deshalb soll er in ferner Zukunft sogar ertüchtigt werden, damit hier 135 Meter lange Schiffe fahren können.

Leben am Fluss

Ausstellung
Das Projekt „Menschen am Neckar“ findet seine vor Ort Anbindung im Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Das zeichnet in seinem Ausstellungsbereich „Stadt – Land – Fluss“ die Entwicklung des Neckars nach und beleuchtet Aspekte wie Freizeit, Schifffahrt oder Weinbau. Wie haben die Menschen früher am Neckar gelebt? – diese Frage steht als Motto über der Schau.

Mitmachen
Oft denkt man nicht darüber nach, wie man seine Umwelt erlebt. Das wollen der Blog und der Instagram-Kanal zum Projekt (@menschen.am.neckar) ändern. Hier kann jeder seine Neckargeschichten veröffentlichen – oder sich von der Lektüre anderer Beiträge inspirieren lassen. www.menschen-am-neckar.de adr