Im CJD in Nagold geben Vadim Gluzman und Pianist Evgueny Sinayskiy derzeit einen Meisterkurs. Foto: Kunert

Meisterkurs: Der Violin-Virtuose Vadim Gluzman formt als Pädagoge die künftige Weltspitze der Musik

Es ist ein ganz normaler Arbeitsalltag im Meisterkurs mit dem Violin-Virtuosen Vadim Gluzman. Seminarraum 1 des Christlichen Jugenddorfs (CJD) Nagold. Oben im Rötenbachtal. Ein Ort kompletter Kontemplation. Hier werden aus dem ambitioniertem Geigen-Nachwuchs die Weltstars von morgen gemacht.

Nagold. Was es hier nicht gibt, ist Glamour – den Glamour der ganz großen Bühnen. Das Rampenlicht. Das Glitzern der Kronleuchter. Hier wird gearbeitet. Der Charme eines Klassenraums einer Grundschule herrscht hier. Würde nicht der große Flügel von Pianist Evgueny Sinayskiy dort stehen, wo sonst das "Lehrerpult" vor der alten Schreibtafel regieren würde. Meister Vadim Gluzman selbst hat hier keinen festen "Arbeitsplatz". Er sucht sich in Wechselwirkung mit seinen Schülerinnen und Schülern immer neue "Fixpunkte" im Raum, um den Klang der Musik seiner Schützlinge stets optimal "atmen" zu können.Im Moment leidet Ksenia unter dem strengen Regiment des Meisters. Ksenia kommt aus Russland, deshalb ist die Unterrichtssprache im Augenblick Russisch – auch Gluzmans Muttersprache. Formal kommen die insgesamt 14 jugendlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Meisterkurses aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Aber dort befinden sich nur die Konservatorien, an denen diese jungen, auch bereits Meister ihres Fachs sonst studieren. Pässe haben die Seminaristen aber eben aus Russland, China, Taiwan, Italien – und auch Deutschland und Österreich. Die kommende Weltspitze eben. Handverlesen.

Gluzman unterbricht mitten in der dynamischsten Passage

Ksenia steht in Jeans und T-Shirt vor Gluzman, mit eher unsicherem Blick. Man spürt die große Ehrfurcht vor dem Meister. Vor seinem Können. Seinem Urteil. Aber wenn Ksenia zu ihrem Spiel ansetzt, ist auch ihre ungemein präsente Persönlichkeit da. Die Hoheit ihrer Musik. Gluzman unterbricht mitten in der dynamischsten Passage die Schülerin. Will es noch ein wenig leidenschaftlicher. Noch einen Deut mehr Ekstase. Jedes Musikstück ist ein Pfad. Man kann ihn entlang wandern. Oder aus dem Weg ein Ereignis machen. Für sich. Für die Zuhörer. Diesen Punkt finden, wenn aus schnöder Musik pure Magie wird. Alles perfekt zusammenkommt. Ganz Großes entsteht. Ksenia ist auf diesem Weg.

Doch jetzt sind ihre 40 Minuten an diesem Vormittag vorbei – Miriam wartet schon. Die Unterrichtssprache wechselt zu Englisch. Miriam ist eine resolute junge Frau. Hat keine Angst, nicht mal Ehrfurcht vor dem Meister und seinem Pianisten. Sagt genau, was sie will. Sie hat sich für dieses Kolloquium die berühmte, extrem anspruchsvolle Chaconne in g-moll für Violine und Generalbass von Tomaso Antonio Vitali herausgesucht. Einer der Achttausender für Violine – wenn Musik Berge wären. Ein Stück, dass die größten, bedeutendsten Konzertsäle der Welt mit dem Spiel nur von Violine und Piano zum Erschauern bringen kann. Das unter die Haut geht. Einem die Tränen in die Augen treibt. Das kann Musik. Diese Musik.

Doch jetzt ist der Pädagoge, nicht der Virtuose Gluzman gefragt. Behutsam nähert er sich Miriams starker Persönlichkeit. Fordert sie auf, weniger "zu tanzen" mit ihrer Geige. Sie soll sich auf einen Tisch setzen, sich an diesen lehnen – mit einem festen Stand für die Beine, Füße. Und sich nun auf die extrem dynamischen Passagen des "Chaconne", dieses barocken Tanzes, konzentrieren. Und – die Kraft, die Energie, die Miriam bisher in ihren Körper fließen ließ, fließt mit einem Mal in die Musik. Macht diese – noch – größer, schöner, gewaltiger. Gänsehaut!

Jetzt darf Miriam wieder frei stehen. Ihre große Persönlichkeit folgt nun bereitwillig dem Meister, der Perfektionierung ihres Spiels. Weil auch sie der großen, genialen Veränderung in der Musik, die sie da spielt, gewahr wird. "Goooood...", sagt Gluzman – mit ganz vielen "O"s, wenn die Schülerin diese angeleitete Metamorphose mit geht. Und dann greift Meister Vadim Gluzman mit einem Mal selbst zu seiner 1690er Stradivari, bekannt unter dem Namen "Auer Stradivarius" (auch: "ex-Leopold Auer") – und die absolute Gänsehaut stürmt übers Trommelfell. Der Seminarraum 1 des CJD Nagold erschauert für einen unaussprechlich magischen Moment. Der höchste Gipfel, der Mount Everest für Violine, wird für einen Augenblick hörbar.

"Die haben regelrecht gebettelt, diesen Kurs durchführen zu dürfen"

Doch er ist hier nur Mittel zum Zweck. Um der Schülerin zu zeigen, wohin der Aufstieg in die Weltspitze der Konzerthäuser sie noch führen kann. Als Motivation. Als Anleitung. Als Vorbild. In der aber auch Gluzmans – und seines "Pädagogen-Zwillings" Sinayskiys – Mission, vielleicht manchmal auch Passion, sichtbar wird: Die Fackel dieser allergrößten Kunst unbedingt weiterzugeben. Ganz uneitel sich auf keinem Ruhm dieser Welt auszuruhen. Sondern Lehrer zu sein. Abzugeben vom eigenen Talent, dem eigenen ganz großen Können. Das Wissen um die Kunst nicht eifersüchtig zu horten. Sondern immer und unter jeden Umstand weiterzugeben.

"Die haben regelrecht gebettelt, diesen Kurs durchführen zu dürfen", hatte vorhin Adelheid Kramer, sonst langjährige Organisatorin der Sommermusik im Nagoldtal, bei einem Kaffee erzählt. Eigentlich war – ist – die Sommermusik in diesem Jahr abgesagt. Aber Gluzman und Sinayskiy wollten trotzdem unbedingt ihren Meisterkurs durchführen – egal wie beschwerlich es bei den herrschenden Corona-Auflagen werden würde. Kramer ließ sich darauf ein – organisierte alles, lief dabei auch offene Türen ein. Führt aber auch ein strenges Hygiene-Regiment. Als Gluzman aus Israel über Frankfurt anreiste, streikte zu allem Überfluss die Bahn. Aber auch solche Hürden ließen sich (mit einem Mietwagen) aus dem Weg räumen.

Das muss man im Hinterkopf haben – diese Passion für den Violin-Nachwuchs – bei diesem Unterrichts-Marathon im Seminarraum 1. Ohne Pause folgt auf Miriam nun Selma. Eine neue Persönlichkeit – die sich vor Anspannung die Lippen zerkaut. Deutliche Druckstellen vom Proben mit der Geige an Wange und Hals hat. Der Weg zur Virtuosin ist kein leichter. Auch der Schmerz gehört manchmal dazu. Gluzman sieht diese Leidenschaft, wägt sie ab. Wird als Lehrer sanfter. Stellt sich auf die Schülerin ein. Die sich an einem Beethoven-Werk abarbeiten will. Nimmt auch Sie mit auf – vielleicht noch keinen Achttausender. Eher das Matterhorn. Eindrucksvoll. Hoch. Schwierig. Ein nächstes Etappenziel auf dem Weg zur ultimativ nächsten Weltspitze. Die nun künftig einmal auch voll Ehrerbietung in ihre Vita wird schreiben können: Meisterkurs 2021 bei Vadim Gluzman. In Nagold. Als Ausweis, zur Elite dieser Kunst dazuzugehören.