Theologe Siegfried Zimmer beeindruckt die Besucher mit seinen Geschichten Foto: Ludmilla Parsyak

Den Kirchenaustritten setzen die Stuttgarter Protestanten die Gottesdienst-Reihe Gospel-Haus entgegen. Bei der Premiere platzte die Friedenskirche bereits aus allen Nähten.

Stuttgart - Ja ist denn schon Weihnachten? Die Frage stellten sich Mitte März viele Besucher in der Friedenskirche. Sonst ist die Kirche im Stuttgarter Osten nur an Festtagen so gut besucht. Wenn überhaupt.

Und jetzt drängen sich mindestens 700 Menschen in der Kirche. Sogar Stehplätze sind rar. Für Stadtdekan Sören Schwesig ist es ein Gefühl, als fiele Ostern und Weihnachten zusammen an diesem Sonntag. „Wunderbar“, sagt er beglückt, „wunderbar.“

Im Traum dachte keiner daran, dass Gospel-Haus, so heißt die neue Gottesdienst-Form in Stuttgart, so erfolgreich starten würde. Zahlenmäßig. Und qualitativ. Die gelungene Premiere hat einen Grund, aber zwei Namen: Thomas Dillenhöfer und Professor Siegfried Zimmer. Der eine ist Chorleiter von Gospel im Osten. Der andere ist einer der wortgewandtesten Kirchenmänner dieser Zeit. „Wir sind ein echtes Tandem“, sagen sie unabhängig voneinander.

Der eine reißt Menschen mit seinen Liedern mit. Der andere holt sie später zu einer Reise mit Geschichte(n) ab.

„Ich fühle mich beseelt“

Zwei Wege, ein Ziel: Sie sollen Menschen erreichen, die der Kirche sonst eher fern sind. Ob es bereits zum Auftakt funktioniert hat? Schwer zu sagen. Wer nachfragt, hört dies: „Ich fühle mich beseelt“, sagt eine Dame, „beim Mitsingen der Gospel fühlte ich eine innere Freude. Und die Worte von Zimmer haben mir etwas fürs Leben gegeben.“

Die Wirkung von Gospel im Osten ist bekannt. Der Chor wächst an Anerkennung und Mitgliedern. Aber was hat es mit diesem Siegfried Zimmer auf sich? Worin liegt dessen Anziehungskraft? Kirchennahe kennen den Professor und Theologen aus Ludwigsburg. Dort hat er vor 19 Jahren zusammen mit Pfarrer Georg Schützler den Nachteulen-Gottesdienst aus der Taufe gehoben. Seitdem kommen dort regelmäßig bis zu 1000 Besucher.

In Stuttgart soll dieses Konzept nicht kopiert werden. Wohl aber wollen Dillenhöfer und Zimmer viele Menschen anlocken. „Ein Gottesdienst sollte nicht langweilig sein“, sagt Zimmer, der zuletzt an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg gelehrt hatte. „Ein langweiliger Gottesdienst ist ein Widerspruch in sich. Denn in einem Gottesdienst wird einem das Geheimnis des Lebens bewusst. Und das Geheimnis des Lebens ist spannend.“ Wenn die Besucher am Ende „Wow“ sagen, dann hat Zimmer sein Ziel erreicht: Die Menschen gehen inspiriert nach Hause. Und sie kommen wieder.

Ohne Orgel, ohne Talar und ohne das blaue Gesangsbuch

Mit alten Formen und klassischer Liturgie sei das heute nicht mehr zu machen. Verkündung im 21. Jahrhundert geht auch anders. Ohne Orgel, ohne Talar und ohne das blaue Gesangsbuch. Gospel-Haus als vierwöchentliches Alternativ-Programm zum Sonntagmorgen. Dass es so etwas in der Landeshauptstadt bisher nicht gibt, empfindet Zimmer als „schwere Lücke“. Die Zeit dazu sei „überreif“. Ausgerechnet in dieser säkularisierten Stadtgesellschaft. „Daher suche ich den Kontakt zu diesen Menschen, die sonst keinen Zugang zum Gottesdienst haben und mit Kirche und Religion nicht viel zu tun haben.“

Zimmer kennt das „Sesam-Öffne-Dich“ zu den Herzen der Menschen. Es ist die gute Erzählung. Mit leiser, monotoner Stimme setzt er Worte in homöopathischen Einheiten ab. Zur Premiere von Gospel-Haus sprach Zimmer satte 31 Minuten. Eigentlich viel zu lang. Laut Martin Luther sind 31 Minuten eine rhetorische Sünde. Der Reformator predigte stets: „Tritt forsch auf, mach’s Maul auf, hör bald auf.“

Zimmer denkt nicht daran. An diesem Sonntag geht es in der Friedenskirche, Schubartstraße 12, um 19 Uhr weiter. Wieder mit dem bewährten Konzept: Gospel-Musik zum Hören oder Mitsingen. Und Nahrung für den Geist. „Man muss einfach, aber nicht simpel reden“, sagt Zimmer und trifft damit meist den Nerv seiner Zuhörer. Zuletzt beim Auftakt-Gottesdienst von Gospel-Haus. 700 Menschen hatten dieses symbolische „Wow“ auf ihrem Gesicht.