Der Medizinische Dienst mit Sitz in Lahr stellt fest, wie viele Leistungen jeder Pflegebedürftige bekommen soll. Unsere Redaktion hat mit dem neuen Chef gesprochen – auch über seine Sorgen.
Wer einen Antrag auf einen Pflegegrad stellt, erhält Besuch von einem Gutachter des Medizinischen Dienstes. Das sind erfahrene Pflegekräfte, die herausfinden wollen, was der Mensch vor ihnen kann und wobei er Hilfe braucht. Die Arbeit der Gutachter wird zunehmend benötigt, denn im Zuge der Alterung der Gesellschaft gibt es immer mehr Pflegebedürftige.
Der Medizinische Dienst Baden-Württemberg (MD) hat 18 Standorte, die Hauptverwaltung ist in Lahr angesiedelt. In dem auffälligen Gebäude am westlichen Stadteingang sind 151 Menschen beschäftigt. Von hier aus wird die Arbeit des MD im Ländle mit seinen insgesamt 1480 Mitarbeitern unterstützt, darunter rund 580 Pflegefachkräfte und 262 Ärzte.
Andreas Klein ist in Seelbach aufgewachsen
Vorstandsvorsitzender ist Andreas Klein. Im Besprechungsraum neben seinem aufgeräumten Büro im obersten Stockwerk hat er mit unserer Redaktion über seine Arbeit gesprochen. Es ist Kleins erstes Zeitungsinterview, seit er am 1. Januar die Leitung des MD übernommen hat. In der Region kennt er sich aus, der 49-Jährige ist in Seelbach aufgewachsen und hat 1992 am Lahrer Max-Planck-Gymnasium Abitur gemacht. Klein ist gelernter Krankenpfleger mit Jura-Studium (siehe Info).
Auf die Frage, welchen Rat er Menschen gibt, die Besuch von einem Gutachter des MD erwarten, meint er, sie sollten nichts beschönigen, aber auch nicht übertreiben. Damit jeder die Leistungen bekomme, die ihm zustehen, müssten sich die Gutachter eine gute Übersicht verschaffen können.
Die Gutachter des MD haben vielfältige Aufgaben. Sie prüfen zum Beispiel auch, wenn jemand eine Rehabilitation machen soll, ein spezielles Hilfsmittel braucht oder lange Zeit nicht arbeiten kann. Auch bei ärztlichen Behandlungsfehlern oder wenn die Rechnung eines Krankenhauses möglicherweise nicht stimmt, sind sie gefragt – und das ist insgesamt sehr häufig der Fall. Im Vorjahr hatte der MD in Baden-Württemberg 852 851 Aufträge zu bearbeiten, die meisten zu Fragen der Pflege, stationären Leistungen und Arbeitsunfähigkeit.
Auf Grundlage dieser Empfehlung entscheiden die Krankenkassen, ob sie eine Leistung bewilligen. Manche Patienten und Mediziner begegneten den Medizinischen Diensten, die es in allen Bundesländern gibt, dabei nicht ohne Skepsis. Lange Zeit wurden die Medizinischen Dienste zu stark in der Nähe der Krankenkassen wahrgenommen. 2019 beschloss der Bundestag daher ein Reformgesetz. Seither sind die Medizinischen Dienste eigenständige Körperschaften des öffentlichen Rechts, die das K (für Krankenversicherung) nicht mehr im Namen tragen.
Die Transparenz der Arbeit des Medizinischen Dienstes ist Klein wichtig. Deshalb hat er unter anderem Forumsveranstaltungen für Ärzte und Patienten eingeführt.
Ärger mit unzufriedenen Patienten, die Ablehnungen als willkürlich empfinden, gibt es nach wie vor, wie Klein bestätigt – aber er ist selten. Im Vorjahr folgten auf rund 330 000 „Einzelfallbegutachtungen Pflege“, so die interne Bezeichnung, nur 512 Beschwerden.
Damit lag die Beschwerdequote bei winzigen 0,15 Prozent, wie Klein betont. Er nennt noch weitere Zahlen, um die Qualität der Arbeit des MD zu belegen. So habe eine Umfrage ergeben, dass mehr als 90 Prozent der Patienten ihren Gutachter als freundlich, einfühlsam und kompetent empfunden haben.
Immer mehr Gutachten müssen erstellt werden
Weit weniger gefallen Klein andere Zahlen. Er zitiert eine Studie des Statistischen Bundesamts, wonach in Deutschland die Zahl der pflegebedürftigen Menschen bis ins Jahr 2035 um 27 Prozent auf 6,3 Millionen ansteigen wird. Das bedeutet noch mehr Arbeit für die Pflegebegutachter. Mit dieser Entwicklung Schritt zu halten, bezeichnet Klein als eine der größten künftigen Herausforderungen seiner Arbeit. Er habe deshalb schon „schlaflose Nächte“ gehabt.
Man habe zwar engagierte Mitarbeiter, die auch an Samstagen Hausbesuche machen, aber angesichts ständig steigender Auftragszahlen müsse man auch alternative Formen der Begutachtung einbeziehen, zumal der Fachkräftemangel in der Pflege auch vor dem MD nicht Halt mache. Begutachtungen per Telefongespräch gibt es bereits, künftig sollen Patienten, sofern es möglich ist, auch per Videoübertragung befragt werden.
Gleichwohl werde der Hausbesuch der „Goldstandard“ der Begutachtung bleiben, hebt Klein hervor.
Zur Person
Andreas Klein begann seine berufliche Laufbahn mit einer Ausbildung zum Krankenpfleger, danach studierte er Jura an der Uni Freiburg. Vor seinem Wechsel zum damaligen MDK Baden-Württemberg 2008 arbeitete er zuletzt als Rechtsanwalt in einer Kanzlei mit den Schwerpunktgebieten Sozialrecht, Verwaltungsrecht und Medizinrecht. Beim Medizinischen Dienst Baden-Württemberg stieg Klein in der Funktion des Leiters der Stabsstelle Recht und Datenschutz ein. Vorstandsvorsitzender ist er seit dem 1. Januar 2023.
Klein, der in Denzlingen wohnt, ist verheiratet und hat eine Tochter. Seine Freizeit verbringt er gern mit seiner Familie und bei Spaziergängen mit seinem Hund in der Natur.