Helfer bergen die Opfer nach der Massenpanik. Foto: dpa/Lee Jin-Man

Es hätte Südkoreas erste große Party nach Aufhebung der Corona-Maßnahmen werden sollen. Doch die Veranstaltung wird zur größten nationalen Katastrophe seit Jahren.

Am Tag nach der Tragödie zeigt sich das Seouler Ausgehviertel Itaewon gespenstisch leer: Polizisten haben die kleinen Seitengassen abgeriegelt, Trauernde an den Absperrungen Blumensträuße niedergelegt. Nur Stunden zuvor haben hier dutzende Menschen auf grausame Weise ihr junges Leben verloren: Auf Smartphone-Aufnahmen von Zeitzeugen ist zu sehen, wie die Opfer zu Dutzenden unter blauen Plastikplanen am Straßenrand aufgereiht wurden. Andernorts stülpten Rettungskräfte behelfsmäßig die Hemden über die reglosen Gesichter der Verstorbenen, um zu signalisieren, dass sie nicht mehr am Leben sind.

 

Es hätte die größte Party des Jahres werden sollen. Doch stattdessen endete die diesjährige Halloween-Feier in Itaewon in einer nationalen Tragödie: Über 150 Personen sind nach einer Massenpanik ums Leben gekommen, mehr als 100 weitere wurden zum Teil sehr schwer verletzt. Unter den Opfern befanden sich vor allem junge Südkoreaner in ihren 20ern, zwei Drittel von ihnen weiblich. Auch 20 Ausländer sind bei der Tragödie ums Leben gekommen.

Erste Gerüchte lauteten: Eine Party-Droge soll schuld sein

Die genauen Umstände sind nach wie vor nicht geklärt. Zunächst meldete die Nachrichtenagentur Yonhap dutzende Fälle von Herzstillstand unter Partygängern in Itaewon, worauf sich umgehend Gerüchte verbreiteten, dass ein dortiger Nachtclub mit Drogen versetzte Halloween-Süßigkeiten verteilt haben könnte.

Doch nach jetzigem Wissensstand scheint eine andere Theorie wesentlich wahrscheinlicher: Über 100 000 Menschen zogen am Wochenende ins Viertel. Am frühen Abend waren die engen Gassen entlang der Kneipen und Clubs bereits derart dicht bevölkert, dass kaum ein Fortkommen möglich war.

Verzweifelte versuchen, die Hauswände hochzuklettern

Als die Menschen plötzlich in eine kleine Seitengasse strömten, kam es dort offenbar zu einer Massenpanik: Auf Videos ist zu sehen, wie einige junge Männer verzweifelt versuchen, an den Wänden hochzuklettern, um dem erdrückenden Mob zu entgehen „Glücklicherweise waren wir nicht unter den Menschenmassen“, schreibt eine junge Frau auf ihrem Instagram-Account: „In Itaewon ist es zwar jedes Jahr extrem voll, aber dieses Jahr war es einfach nur verrückt“.

Der lokale Fernsehsender SBS interviewte noch in der Nacht auf Sonntag mehrere Augenzeugen, die berichteten, wie sie an den Verletzten auf der Straße verzweifelt Wiederbelebungsmaßnahmen durchführten, da sich die Rettungskräfte nicht rechtzeitig ihren Weg durch die Menschenmassen hätten bahnen können. Über 140 Einsatzfahrzeuge waren in jenen Stunden im Einsatz.

Das alljährliche Halloween-Festival in Itaewon war die erste große Feier, seit die strengen Covid-Auflagen in Südkorea gelockert worden sind. Ohne Maskenpflicht und Sperrstunde hatte sich unter vielen Koreanern ein immenser Drang zum ausgelassenen Feiern angestaut, der an diesem Wochenende ein Ventil finden sollte.

Das Viertel steht für Freiheit und Feiern

Das Itaewon-Viertel ist in Südkorea ein Symbol für Freiheit, Hedonismus und Multikulti. Doch unter konservativen Senioren gilt es auch als Sündenpfuhl. Ohne Frage jedoch ist es ein weltweit einmaliger Kiez: Eingepfercht zwischen einer US-Militärbasis und der größten Moschee des Landes befinden sich hunderte Bars, Clubs und Restaurants.

Und an einem Hügel schmiegen sich Schwulen-Kneipen, Rotlicht-Salons und Halal-Lokale dicht aneinander. Und in keiner Nacht des Jahres zieht das Viertel mehr junge Menschen an als zum Halloween-Wochenende.

Bis tief in die Nacht boten sich dort den Reportern am Unglücksort surreale Szenen: Während die Leichen in Rettungsfahrzeugen abtransportiert wurden und schockierte Passanten in Tränen ausbrachen, tanzten nur einen Steinwurf entfernt Partygäste in der Fußgängerzone ausgelassen weiter – offenbar zu betrunken, um zu realisieren, dass sich nur kurz zuvor eine der größten Tragödien der jüngeren Geschichte Südkoreas ereignet hat.

Was hat die Polizei falsch gemacht?

Sobald die akute Trauer der Koreaner abgeklungen ist, müssen sich die Verantwortlichen wohl einige unangenehme Fragen stellen müssen – etwa, warum laut Berichten nur 200 Polizisten für das Viertel abkommandiert wurden. Viele von ihnen waren nach Augenzeugenberichten vor allem um den Autoverkehr bemüht, anstatt die Menschenmassen zu koordinieren.

Die mangelnde Anzahl an Ordnungshütern ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil die Stadtregierung in Seoul bei regelmäßigen politischen Protesten auf dem zentralen Gwanghwamun-Platz oftmals mehr Polizisten entsendet, als Demonstranten erwartet werden.

Erinnerungen an das große Fährunglück

Die Ereignisse vom Samstag werden in Südkorea als die größte nationale Katastrophe seit acht Jahren in die Geschichtsbücher eingehen. Zuletzt sind 2014 bei einem Schiffsunglück – verursacht durch menschliches Versagen und Korruption – knapp 300 Südkoreaner ertrunken, der Großteil von ihnen Teenager während eines Schulausflugs.

Wie viele Kommentatoren anmerkten, handelt es sich bei den Toten der Sewol-Fähre just um die Generation, die heute Anfang 20 ist – jene Altersgruppe also, aus der die meisten Opfer von Itaewon stammen. Es fühlt sich in der kollektiven Psyche der Koreaner an, als hätte die Gesellschaft es zweimal verpasst, ihre Jugend zu schützen.