Foto: AP

Material mit Mythos: Schon Michelangelo holte sich seine Marmorblöcke in Carrara.

Carrara - Marmor aus dem italienischen Carrara - das ist der Inbegriff für besonders edlen Stein. Er zeichnet sich durch seine makellos glatte Oberfläche aus. Schon die Römer bauten das weiße Gold ab. Noch heute ist es der Eckpfeiler der Wirtschaft von Carrara. Ein Besuch im größten Marmor-Steinbruch der Welt.

 

Es wuselt wie in einem Ameisenhaufen. Alles ist staubbedeckt, selbst die wenigen Sträucher, die am Wegesrand überlebt haben. Schwere Lastwagen schnauben die Haarnadelkurven zu den Abbaustellen in der Cava Michelangelo im italienischen Carrara hinauf. Schwer beladen fahren sie im ersten Gang wieder hinunter. Ein eindrucksvolles, fast surreales Bild. Wir sind in der Toskana, in den Apuanischen Alpen, im größten Marmor-Abbaugebiet der Welt.

Sechs Tage die Woche wird in dem Steinbruch gearbeitet, wo sich vor Jahrhunderten schon Michelangelo (1475-1564) die Brocken für seine weltberühmten Skulpturen suchte. Die Nachfrage ist groß, Marmor aus Carrara gilt als einer der besten weltweit. Die Liste der Abnehmer ist lang, auch Kunden aus dem Orient und Asien sind darunter. An Arbeit mangelt es Franco Barratini also nicht. Dabei könnte er sich aufs Altenteil zurückziehen, vor kurzem wurde er 70. Seit er zwölf ist, arbeitet Barratini in den Steinbrüchen. Inzwischen gehören ihm mehrere, so der Cava Michelangelo, der berühmteste von allen. Schon aus der Ferne leuchten die weißen Gesteinsterrassen. Der Anblick irritiert, er erinnert an Schnee, an Gletscher. Kein Wunder, dass Marmor in fast sechs Jahrzehnten zu Barratinis Leidenschaft geworden ist.

Ein Leben ohne Marmor können sich die meisten Menschen in Carrara nicht vorstellen. Auf die eine oder andere Art haben hier alle mit dem weißen Gold zu tun. Fast jeder zweite Einwohner verdient sein Geld damit. Seit Generationen. Marmor, wohin man schaut - in den Souvenirläden, an öffentlichen Gebäuden, in Privathäusern. In Carrara und Umgebung ist der elegante Stein Standard, draußen in der Welt steht er für Luxus. Hotels schmücken damit ihre Bäder, Banken ihre Eingangshallen, Firmen ihre Fassaden. Mehr als 50 Sorten gibt es im Nordwesten der Toskana. Der weiße aus Carrara ist der schönste - und auch der teuerste. Zwischen 1500 und 10000 Euro kostet ein Kubikmeter, die Qualität bestimmt den Preis.

Die Knochenarbeit im Steinbruch hat der Landschaft Reichtum und Ruhm gebracht, sie hat sie verändert, geprägt. Doch sie hat auch Konflikte ausgelöst. Die Luft ist staubgeschwängert, 365 Tage im Jahr. Und nicht alle mögen die massiven, kantigen Terrassen, die nach dem Abbau zurückbleiben.

Etwa 1,5 Millionen Tonnen werden jedes Jahr aus den knapp 160 Steinbrüchen geholt. Noch 60 Milliarden Kubikmeter Marmor soll es in der Region geben. Im 18. Jahrhundert wurde der Stein gesprengt, die Arbeiter schnitten ihn mühsam aus den Felsbrocken. Heute gibt es technisch ausgefeilte Arbeitsgeräte. Die Cavisti, wie die Arbeiter genannt werden, benutzen Laser, Diamantdraht, Kettensägen und gigantische Schleifen, um den Marmor aus den Hunderte Meter hohen Gesteinswänden zu sägen.

Ein Risiko bleibt jedoch immer. Der Marmorabbau hat im Lauf der Jahrhunderte viele Todesopfer gefordert. Erst in den 60er Jahren wurde den Cavisti die Arbeit etwas erleichtert. Ein Honigschlecken ist sie bis heute nicht. Im Sommer sind die Temperaturen oft unerträglich; der Staub erschwert das Atmen und macht durstig. Früher wurden die schweren Blöcke auf Ochsenwagen geladen und ins Tal gebracht, heute sind auf den Terrassen Bagger und Raupen unterwegs. Schwere Lkw übernehmen den Transport. Straßen, Bevölkerung und Touristen leiden jedoch unter dem Verkehr.

Trotz allem: Die meisten Bewohner Carraras sprechen ehrfürchtig vom Marmor - und sie lassen kein Körnchen verkommen. Selbst der feinste Staub findet Verwendung, etwa in der Pharmaindustrie in Kalziumtabletten oder in der Kosmetikindustrie für die Herstellung von Zahnpasta.

Bei dem weißen Gold, das viele Menschen so bewundern, handelt es sich um kalkhaltigen Meeresschlamm. Vor Millionen von Jahren gelangte er schichtweise in eine Tiefe von bis zu 30 Kilometern. Durch Reibung und Druck kam es zu extrem hohen Temperaturen, wobei das kalkhaltige Sedimentgestein auskristallisierte und in Marmor umgewandelt wurde. Man findet ihn in vielen Ländern, sogar in Deutschland. In jedem Gebiet hat er eine andere Farbe, Struktur, Härte - sprich eine andere Qualität.

Seit gut 2000 Jahren ist der edle, elegante Stein nicht nur als Baumaterial gefragt, er inspiriert auch Künstler. Michelangelo etwa, der dem Marmor aus Carrara zu Weltruhm verhalf. Mit seinem David zeigte er, dass dieser harte, kalte Stein verführerisch und weich wirken kann. Er formte die Skulptur, die heute in Florenz zu sehen ist, aus einem Rohling, der von Venen zerfurcht und entsprechend schwer zu bearbeiten war. Michelangelo sei an der 4,34 Meter hohen Figur fast verzweifelt, heißt es.

Anna Chromy (71) erging es besser. Die tschechische Bildhauerin hat in den letzten fünf Jahren aus einem 250 Tonnen schweren, zart hellgrauen Block ihren "Cloak of Conscience" (Mantel des Bewusstseins) herausgeschält, eine 4,30 Meter hohe, 3,90 Meter tiefe und 2,80 Meter breite begehbare Skulptur. Es sei der wohl größte, schönste und makelloseste Marmorblock, der je aus dem Cava Michelangelo geholt wurde, sagt Franco Barratini stolz. Er hat den Stein der Künstlerin geschenkt. Und mit seiner Leidenschaft für Marmor längst seinen Sohn Giovanni angesteckt. Die Nachfolge im Cava Michelangelo ist also gesichert.