Marcia Haydée (Mitte) 2015 im Ballettsaal in Stuttgart mit Tamas Detrich (links) und Thierry Michel (rechts) Foto: Roman Novitzky

Crankos Muse, Primaballerina und Stuttgarts Ballettdirektorin: Marcia Haydée brillierte in vielen Rollen, an diesem Dienstag wird die Brasilianerin 80 Jahre alt.

Stuttgart - Sie zählt nicht nur zu den großen Tänzerinnen, sondern auch zu den großen Kompaniechefinnen des 20. Jahrhunderts: Marcia Haydée. Als Muse des legendären John Cranko ging sie über Grenzen – und auch mit achtzig Jahren legt die ehemalige Stuttgarter Ballettchefin, die heute in Santiago de Chile arbeitet, die Hände nicht in den Schoß.

Frau Haydée, als Erstes ein Stichwort: Stuttgart. Was verbindet Sie mit der Stadt?
Stuttgart steht für meine Heimat, mein Leben, meine Karriere. Hier hat sich alles ereignet. Jedes Mal, wenn ich zurückkehre, spüre ich, wie ich mich verändere. Meine Energie bekommt einen Schub, sobald ich nur einen Fuß ins Staatstheater setze.
Woran haben Sie gedacht, als Sie zum ersten Mal von Stuttgart hörten?
An Cranko, John Cranko. Er hatte 1958 im Auftrag des Marquis de Cuevas „Cat’s Cradle“ in Monte Carlo choreografiert. Cuevas war nicht nur ein Grandseigneur, dem ich mein ganzes Wissen über Tanz verdanke. Er war auch ein Visionär. Schon damals erschöpfte sich sein Interesse nicht in Klassikerpflege. Er suchte ständig nach Neuem und arbeitete viel mit Salvador Dalí.
Den Sie auch kennengelernt haben?
Als beim Marquis de Cuevas „Mad Tristan“ einstudiert wurde, brauchte Dalí jemanden, an dem er ein Kostüm abstecken konnte. Ich konnte stundenlang ohne jede Bewegung stehen, deshalb fiel die Wahl für Dalís Modell auf mich. Während sich also Dalí mit Cuevas auf die lustigste Art unterhielt, trug er Metallblättchen auf meinem Trikot auf, als wäre ich eine Chrysantheme.
Und wie kam Cranko ins Spiel?
Der Marquis hatte von einem jungen Mann gehört, der gerade seine ersten Erfolge beim Sadler’s Wells Ballet feierte: Cranko. Den also holte er 1958 für „Cat’s Cradle“ – und mich faszinierte, wie er mit Tänzern arbeitete. Das Ballett selbst war übrigens ein Flop bei der Uraufführung in Paris.
1961 starb der Marquis . . .
. . . und ich wollte nicht länger bleiben. Alfonso Catá, meine erste große Liebe, hörte von einer Audition in Stuttgart und von John Cranko. Weil er in „Cat’s Cradle“ dabei war, rechnete er sich Chancen aus. Cranko bot ihm augenblicklich einen Vertrag an. Auf diese Weise hörte ich zum ersten Mal von Stuttgart. Die Stadt interessierte mich nicht. Mich interessierte Cranko. Seinetwegen bin ich gekommen.
Mit welchen Erwartungen?
Ich wollte tanzen. Beim Marquis war ich zwar Solistin und tanzte kleine Rollen. Aber ich erwartete nichts dergleichen in Stuttgart, schon gar nicht die Position einer Primaballerina. Cranko hingegen wünschte sich jemanden, der ahnt, was ihn bewegt.
Instinktiv oder intellektuell?
Gedankenübertragung. Wenn er begann, über etwas nachzudenken, habe ich ihm das bereits vor Augen geführt. „Marcia, ich möchte eine Diagonale, wo vielleicht . . .“ – er hat gesagt, er will etwas „so“. Und dieses „So“ habe ich ihm sichtbar gemacht.
Das muss auch bei anderen Choreografen funktioniert haben, sonst hätten sich nicht alle darum gerissen, mit Ihnen zu arbeiten.
Das ist wahr: Wenn man die Besonderheit meiner Karriere beschreiben wollte, dann ist es der Umstand, dass fast alle Rollen, die ich getanzt habe, für mich choreografiert wurden – und das, wie ich vermute, aufgrund dieses intuitiven Verständnisses. Ich habe verstanden, was die Choreografen wollten. Es bedurfte dazu nicht vieler Worte, Cranko sagte nur: „No Limits.“ Das hatte ich schon beim Marquis de Cuevas gelernt, vor allem von seiner Ersten Solistin Rosella Hightower. Sie hat auf eine Art getanzt, bei der man keine Muskulatur erkennen konnte. Sie hat mit Atmung gearbeitet. Rosella hat mich animiert, es mit Yoga zu versuchen und speziell mit dessen Atemtechnik. Tänzer denken nie darüber nach, wie sie atmen. Stattdessen denken sie: Du musst dein Knie strecken! Den Fuß! Sie denken an die Muskulatur. Ich dagegen habe im Tanz geatmet, das war das, was Cranko wollte: sich selbst zu vertrauen. Über Grenzen zu gehen. Sich fallen zu lassen.

„Ich habe mich mit Haut und Haar hingegeben“

Haben Sie sich denn als Material empfunden oder als Mitgestalterin einer Choreografie?
Es ist nicht meine Aufgabe, den Choreografen meine Ideen aufzuzwängen. Ich bin vielmehr ganz Ohr. Ganz Auge. Bei Cranko hat eine Handbewegung genügt, um mir bewusst zu machen, was er wollte. Und ich wollte Crankos Juliasein – nicht die Julia eines William Shakespeare. Ich habe mein Ego hintangestellt, war mir aber sicher, dass es irgendwann wieder zu seinem Recht kommt. Nein, ich sehe nichts Ehrenrühriges darin, wenn ich sage: Ich war immer das Instrument des Choreografen.
Wenn das so wäre, müsste eine Choreografie doch immer automatisch zu ähnlichen Ergebnissen führen, egal wer sie tanzt.
Nein, denn viele Tänzer haben Angst, sich zu verlieren, wenn sie sich rückhaltlos öffnen. Ich hatte diese Angst nie. Ich habe mich immer hingegeben. Nur Crankos „Widerspenstige Zähmung“ war schwierig. Bisher hatte ich fast nur dramatische Stücke getanzt. Nichts Komisches. An einem Sonntag haben wir den Kampf-Pas-de-deux gestellt. Ich spürte: Ich war nicht echt. Richard Cragun, mein Tanzpartner, wurde wütend. Schließlich sagte ich zu Cranko: „I had enough. Ich mache Schluss.“ Und bin so bockig abgegangen, dass er mir nachrief: „Jetzt hast du’s. Jetzt bist du Katharina.“ Es war auf einmal eine andere Bewegungssprache: Es gibt eine Marcia vor ihrer „Zähmung“ und eine danach. Ich wusste jetzt, ich kann mich so bewegen, dass jeder lacht.
Ahnten Sie denn, dass Sie eines Tages das Stuttgarter Ballett leiten sollten?
Nein. Aber Cranko selbst hat damit geliebäugelt. Er träumte davon, dass ich ihn eines Tages als Direktorin ablöse, damit er sich aufs Choreografieren konzentrieren kann. Ich wollte das nicht. Er aber meinte: „Du hast den Kopf dafür.“ Und er hatte recht.
Aber Sie haben sich vermutlich nicht vorstellen können, auch mit achtzig noch in Amt und Würden zu sein, in Santiago de Chile.
Das hätte ich mir überhaupt nicht träumen lassen. Eigentlich wollte ich im vergangenen Jahr die Ballettleitung abgeben. Aber da übernahm Frédéric Chambert die Generaldirektion und bot mir einen weiteren Kontrakt an. Mein Kompanie ist jetzt in dem Zustand, den ich mir immer gewünscht habe. Aber eigentlich wollte ich zurück nach Deutschland, um mit meinem Mann zusammenzuleben . . . Mein Vertrag läuft bis 2023, mit der Klausel, jederzeit aufzuhören, sobald ich die Lust verliere.
Sie sind in einem Alter, in dem man beginnt, Bilanz zu ziehen.
Warum? Ich sage immer: Das Beste kommt noch, deshalb sehe ich nicht den geringsten Grund zum Bilanzieren. Das Leben ist doch nicht vorbei. Und ein Ruhestand ist für mich ohnehin undenkbar. Weil ich so viel erlebt habe, habe ich noch viel zu geben.
Aber macht es Ihnen keine Angst, dass Ihr Leben einmal enden wird?
Wenn man achtzig wird, ist die Wahrscheinlichkeit zwar größer, dass man sich morgen nicht mehr aus dem Bett erhebt. Aber meine Mutter ist mit 97 gestorben, meine Großmutter wurde hundert, meine Urgroßmutter 96. Deshalb bin ich sicher, noch einiges vor mir zu haben. Aber wenn der Moment kommt: Okay, let’s go.
Sie haben bedauert, dass es weder für Maurice Béjart noch für Richard Cragun einen Erinnerungsort gibt: Beider Asche wurde auf dem Meer verstreut. Ich glaube, bei Ihnen wird das anders sein. So wie es in Stuttgart heute einen John-Cranko-Weg gibt, wird es eine Marcia-Haydée-Straße geben.
Die gibt es bereits – nicht in Stuttgart, sondern zu meiner Verblüffung in Santiago de Chile. Ich wusste nichts davon, bis ein junger Zollbeamter bei einer Grenzkontrolle ungläubig in meinem Pass blätterte. Beunruhigt fragten wir, mein Mann und ich, nach dem Grund – und erfuhren, dass er in der Pasaje Márcia Haydée wohnt und bis dato keinen blassen Schimmer hatte, um wen es sich dabei handeln könnte.
Das Leben ist voller Überraschungen.
Ja, und ich erzähle Ihnen gerne immer wieder davon. Wir treffen uns also, wenn ich neunzig werde! Versprochen?
Das Gespräch führte Hartmut Regitz.