Entdeckungen im Deutschen Literaturarchiv: Der Band „Rilke zeichnet“ führt erstmals vor Augen, was die Ausdruckskunst eines der bedeutendsten Lyriker der Moderne stimuliert hat.
Es gibt bestimmte Dinge, auf die man sich in Gedenkjahren für Geistesgrößen normalerweise verlassen kann: Mit großer Wahrscheinlichkeit erscheint eine Monografie von Rüdiger Safranski, um die interessierte Öffentlichkeit über die geehrte Person aufzuklären. Oder für alle, die es bequemer mögen, ebnet ein Comic einen barrierefreien Zugang in die erhabenen Gefilde der Bildung.
Doch bei Rainer Maria Rilke, dessen 150. Geburtstag im Dezember ansteht, ist alles anders. Statt Deutschlands Chef-Biograf, dem vermutlich noch der eben gefeierte Kafka in den Knochen steckt, hat die Chefin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, Sandra Richter, in einer opulenten Einführung den Weg durch Leben und Werk des Dichters gewiesen. Und wenn man so will, legt sie nun zusammen mit Gunilla Eschenbach und Mirko Nottscheid von den Marbacher Instituten noch den Comic nach.
Was natürlich angesichts der archivalischen Seriosität des in der Anderen Bibliothek erschienenen prächtigen Bandes „Rilke zeichnet“ fahrlässig zugespitzt ist. Andererseits aber den wahren Kern trifft, dass man hier in reiner bibliophiler Schaulust schwelgend durch die Genese eines an den Grenzen der Verständlichkeit operierenden Schaffens getragen wird, in dem Text und Bild viel enger ineinander und gegeneinander verwoben sind, als bislang bekannt.
Vor drei Jahren gelangte mit der Jahrhundert-Erwerbung des Gernsbacher Rilke Archivs neben tausenden Autografen, Büchern, Briefen und Dokumenten auch ein umfangreicher Bildschatz nach Marbach, der eine völlig neue Seite des Dichters ins Licht gerückt hat. Schon als Kind hat Rilke nämlich gezeichnet, gefördert von seiner ehrgeizigen Mutter.
In 150 Abbildungen schreitet der Band nun erstmals die Bilderstrecke ab, die in die enigmatische Anschaulichkeit von Rilkes Textkunstwerken mündet: von den frühesten Versuchen mit dem Bleistift, der sich anschließenden grafischen Verarbeitung eigener Erfahrungen mit Traum und Trauma einer soldatischen Existenz, über Karikaturen, gesellschaftliche Typenreihen, Bildgedichte, bis hin zu Skizzen von Gebäuden, Tieren, kunstgeschichtlichen Details, an denen sich dann dieses Schreiben entflammt hat.
„Rilke zeichnet“ eröffnet einen Königsweg in sein Werk
Dabei geht es den Autorinnen und dem Autor gar nicht darum, eine bis jetzt verkannte Doppelbegabung zu würdigen. Am Rande der Komik schrammen die beflissenen Beschreibungen von Kinderbildern vorbei, die sich in ähnlicher Ausprägung in manchem namenlosen Familienarchiv finden mögen. Auch in handwerklich versierteren späteren Arbeiten zeigt sich deutlich, was den malerisch dilettierenden Schriftsteller von den Künstlern in seinem Umkreis unterscheidet. Und doch sind die Blätter weit mehr als nur eine sinnfällige Nebensache, die einem auratischen Nachlass zu Schauwerten verhilft.
Die eigene Zeichenpraxis fungiert vielmehr wie eine Leiter, die vom Bild ins Reich der Schrift führt und darin aufgeht. „Für die Genese von Rilkes Texten wie für seine Selbst-Imagination ist die Bedeutung des Zeichnens gar nicht hoch genug einzuschätzen“, heißt es in dem Buch: „Die nonverbale Kunst ermöglichte Assoziationen, die zu seinen eigenwilligen Ausdrücken und Sprachbildern beitrugen.“
Nach eher konventionellen Anfängen unter anderem als Gesellschaftsbeobachter, der nicht davor zurückscheut, die verschiedenen, auch lächerlichen Facetten der selbst gewählten Künstlerrolle zu skizzieren, beginnt Rilke eigenen Gedichten Illustrationen hinzuzufügen. Eine zeigt einen Kahn unter einem sich neigenden Baum in einer weiten Seenlandschaft: Die Masturbationsmetaphern allerdings, die die Interpreten aus dem zugehörigen Gedicht „Es träumet der See“ herauslesen, sucht man darauf vergebens.
Wie aus dem Spannungsverhältnis der noch dem Jugendstil verpflichteten Bildgedichte später jene für Rilke charakteristische Ausprägung des Dinggedichts wurde, wird an einigen seiner Evergreens gezeigt: Im Pariser Studio des Bildhauers Auguste Rodin zeichnet er die Skulptur eines antiken Tigers. „Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte“ wird, hinter tausend Stäben versperrt, in dem Gedicht „Der Panther“ wiederkehren, allerdings in der Verwandlung eines äußeren in ein inneres Bild. Dieser Prozess kann auch die Gestalt einer Laute annehmen. Das gleichnamige Gedicht endet mit dem Vers: „Und endlich war mein Inneres in ihr“. Er klingt nach in der gezeichneten Skizze einer Lyra, die anatomisch genau umreißt, was im Text unter „einer reifen gewölbten Feige“ verstanden wird.
Erotische Kunstübungen
So wie Rilke überhaupt die Spuren tilgen wollte, die zum fertigen Werk geführt haben, um der Selbstmystifikation eines Empfängers höherer Botschaften Vorschub zu leisten, hat er auch das Bild aus der gedruckten Form, in der er in die Nachwelt eingehen wollte, verbannt. Lange mit Erfolg.
Die Sichtung des Marbacher Bestands enthüllt nun ein zentrales Schöpfungsgeheimnis: „Rilkes Zeichnen wirkt wie ein Rahmen, der sein umfangreiches Werk zusammenhält.“ In letzter Konsequenz aber war es dann der Schrift beschieden, die Grenzen des Sichtbaren hin zum Unsichtbaren zu überschreiten.
Auch wer dieser Entwicklung nicht bis in die letzten hieratischen Weihen folgen will, kann sich in diesem eindrucksvollen Bild-Atlas durch das Vermächtnis eines der bedeutendsten Dichters an der Schwelle zur Moderne blättern – und ein Hauch von der Öffnung eines Pharaonengrabes wird ihn umwehen.
Gunilla Eschenbach, Mirko Nottscheid, Sandra Richter: Rilke zeichnet. Die Andere Bibliothek. 368 Seiten, 68 Euro.
Rilke im Bild
Graphic Novel
Die wirklich einschlägige Comic-Version zum Jubiläum, die dem Gattungsgesetz entspricht, gibt es auch. Die Zeichnerin Melanie Garanin hat sie mit der Graphic Novel „Mein Freund Rilke“ (Carlsen Verlag, 26 Euro) vorgelegt und darin mit dem Zeichenstift eine durchaus eigenständige Linie von heute in die Welt des Dichters gezogen.
Termin
Am 22. Oktober um 18 Uhr ist Melanie Garanin damit im Literaturhaus Stuttgart zu Gast.