Eine Marbacher Klasse hat fürs Museum eine eigene Ausstellung zu Erich Kästner erarbeitet. Aber haben sie „Das doppelte Lottchen“ auch gelesen?
Man hätte erwartet, dass den Kindern Fragen kommen. Wie fühlt es sich an, wenn man als Zwilling durchs Leben geht und einen perfekten Doppelgänger hat? Lotte und Luise sind jedenfalls nicht begeistert. Sie haben sich bisher wie ganz normale und einzigartige Mädchen gefühlt.
Während eines Urlaubs in einem Ferienheim in den Alpen trifft sie beinahe der Schlag. Denn als die beiden Mädchen sich gegenüberstehen, stellen sie überrascht fest, dass sie sich zum Verwechseln ähnlich sehen.
Kästner griff das Thema Scheidung auf
„Das doppelte Lottchen“ von Erich Kästner ist ein Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur, wurde vielfach verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. In dem 1949 veröffentlichten Roman nahm sich Kästner das Thema Scheidung vor, das im Nachkriegsdeutschland ein durchaus heißes Eisen war.
Lotte und Luise sind Zwillinge, die nach der Trennung der Eltern sozusagen aufgeteilt wurden: Luise lebt beim Vater in Wien, Lotte bei der Mama in München. Nach der Rückkehr aus den Ferien tauschen sie kurzerhand die Rollen.
Wie ist es, wenn plötzlich ein Zwilling auftaucht?
Wobei sich Lotte und Luise zunächst nicht ausstehen können. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, wie die Schülerinnen und Schüler des Friedrich-Schiller-Gymnasiums Marbach darauf reagiert hätten, wenn man ihnen plötzlich einen Zwilling vor die Nase gesetzt hätte. In einem ungewöhnlichen Projekt hat sich im vergangenen Jahr eine sechste Klasse der Schule mehrere Monate lang mit Erich Kästner und „Das doppelte Lottchen“ beschäftigt.
Kästner hatte ein enges Verhältnis zu seiner Mutter
Herausgekommen ist nun eine Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne in Marbach, in der die Schülerinnen und Schüler auf ihre Weise das Werk ergründen. Sie haben Eckdaten zu Kästners Biografie zusammengestellt und auf Kartons Zettel geklebt, die wie kleine Briefchen gefaltet sind und zum Öffnen einladen.
Sie haben aber auch ein Schaubild erstellt, welche Verbindung der Autor zu seinen Nächsten hatte. Zur Mutter, erfährt man, war die Beziehung so eng, dass man sich fast täglich schrieb. Mit dem Vater lief es weniger gut. Und sowohl bei der Lebensgefährtin Louise-Lotte Enderle als auch bei der Berliner Freundin Friede Siebert haben die Kinder ein vielsagendes Herzchen ergänzt.
Die Schüler dürfen wie die Profis ausstellen
Unter einer gläsernen Haube steht ein großer Kopf aus Pappmaché: Es ist der Autor selbst mit (echtem) weißem Hemdkragen und fröhlich geschwungener Krawatte. Dass die Beiträge der Schüler so würdig im Museum präsentiert werden, das habe sie sehr stolz gemacht, erzählt Vera Hildenbrandt, die Leiterin des Schiller-Nationalmuseums und des Literaturmuseums der Moderne. Bei der Eröffnung der Ausstellung sei die Begeisterung der inzwischen siebten Klasse wie auch bei Eltern und Geschwistern groß gewesen. „Es war voll“, sagt die Direktorin.
Das Museum hofft, Kinder für das Museum zu begeistern
Es war das erste Mal, dass das Literaturmuseum der Moderne auf diese Weise mit einer Schulklasse kooperierte. „Es ist ein Versuch, junge Menschen ans Museum heranzuführen“, sagt Hildenbrandt. Das Museumsteam hat der Klasse diverse Materialien aus dem Archiv zur Verfügung gestellt – zwar nicht im Original, aber als Fotografien.
Die Kinder waren auch eingebunden in die Vorbereitungen zu der Wechselausstellung „Abgedreht. Literatur auf der Leinwand“ im Literaturmuseum der Moderne, die sich mit dem Zusammenspiel von Literatur und Film beschäftigt. Gezeigt werden prominente Beispiele, bei denen Film und Literatur eng miteinander verknüpft sind.
Im Marbacher Archiv befinden sich Briefe begeisterter Kinder
Das Deutsche Literaturarchiv besitzt viele Drehbücher zu Literverfilmungen, aber auch Pläne, Entwürfe und Szenarien zu Filmprojekten. Erich Kästner hat das Drehbuch zum „Doppelten Lottchen“ selbst geschrieben. Im Marbacher Archiv finden sich auch allerhand Briefe, die Kinder an ihn schickten. Was ist es aber, was „Das doppelte Lottchen“ zu einem so beliebten Kinderbuch machte?
Die Kinder halten sich an Zahlen und Fakten
Das verrät die Präsentation des Schiller-Gymnasium nicht. Ein von Zlata, Dominik, Maja und Robin gezeichneter Comic erzählt die Geschichte der Zwillinge prägnant nach. Die kurzen Texte zum Beispiel zu Kästners Leben konzentrieren sich dagegen auf Zahlen und Fakten – und weniger auf Inhalte. Da erfährt man, dass Kästners Mutter Ida Friseuse war und 1951 starb und der Autor selbst dem Speiseröhrenkrebs erlag.
So sagt diese Präsentation vor allem etwas über Museumstraditionen aus und auch über das, was in der Schule eine wichtige Rolle zu spielen scheint: Daten und Fakten. Ob den Kindern das Buch oder auch die neueste Fernsehverfilmungen gefallen hat, ja, ob sie das Buch überhaupt gelesen haben, das verrät die Ausstellung nicht.
Derzeit wird viel darüber diskutiert, welche Folgen ChatGPT für die Schule haben könnte, weil sich Schüler schon bald manche Hausaufgabe von der Künstlichen Intelligenz schreiben lassen könnte.
Tatsächlich prägen aber schon jetzt Google und Wikipedia wesentlich das Lernen und Denken, weil sie es möglich machen, mit Copy & Paste in wenigen Schritten Informationen zusammenzustellen. Ob man die Schlagworte durchdringt und hinterfragt, spielt dort, wo es nur darum geht, Fakten zusammenzutragen, keine Rolle.
„Das doppelte Lottchen“ sorgen auch für Kritik
Warum verließ Kästner Deutschland nicht, ist eine Frage, die in der Ausstellung gestellt wird. Er habe „im Reich“ nicht mehr publizieren dürfen, heißt es da, und er „änderte seine Identität“. Das sind schnell dahingeworfene Phrasen, die danach rufen, hinterfragt und präziser erläutert zu werden.
Kästner rüttelte an traditionellen Rollenbildern
Als 1950 die Verfilmung des „Doppelten Lottchens“ in die Kinos kam, war das Publikum begeistert. Der Film wurde sogar mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet. Trotzdem löste er auch Kritik aus, weil Kästner hier an Klischees und Rollenbildern rüttelte. Zum einen war es keineswegs selbstverständlich, dass Mädchen die Hauptrollen spielen, während Jungen, die so oft die Helden der Kinderliteratur und der Filme sind, keine Bedeutung haben.
Heute ist eine alleinerziehende Mutter nicht mehr der Erwähnung wert
Besonders eckte aber die Figur der Mutter an, die alleinerziehend und auch noch berufstätig ist – und sich in der Welt recht gut eingerichtet hat ohne Mann. Das stieß manchem Zeitgenossen bitter auf.
Dass die Marbacher Schüler diese Aspekte nicht aufgegriffen haben, ist durchaus ein gutes Zeichen. Offenbar ist es in ihrer Welt kein Stigma mehr, wenn die Eltern getrennt leben und nur ein Elternteil die Erziehung stemmt. Kästner könnte an dieser toleranten Haltung durchaus seinen Anteil gehabt haben.
Ausstellung bis 11. März, Schillerhöhe 8–10 in Marbach am Neckar, geöffnet von Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr
Ausstellung
Literaturmuseum
Ausstellung noch bis 11. März, Schillerhöhe 8–10 in Marbach am Neckar, geöffnet von Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr