Gezeigte Solidarität mit der Ukraine bei der Mahnwache in Nagold. Foto: Fritsch

Es sind politisch bewegte Zeiten – auch in Nagold: Während es früher am Montagabend in der Stadt eher ruhig zuging, sorgen seit Wochen die sogenannten "Montags-Spaziergänger" für Umtrieb. Weit beeindruckender war diesen Montag allerdings eine Friedens-Mahnwache am Alten Turm – nicht wegen der Masse an Teilnehmern, wegen ihrer Intensität.

Nagold - 18 Uhr in Nagold. Am Alten Turm läuten die Glocken und rufen zur Mahnwache. Eine Mahnwache, an der im Laufe des Abends etwa 200 Menschen teilnehmen werden. Der Krieg in der Ukraine bewegt alle. Auch in der Region. Und so entstanden bereits kurz nach dem russischen Angriff auf das Land erste Gebetsversammlungen und Mahn-Veranstaltungen. In Calw zum Beispiel am vergangenen Samstag, unter Federführung des Calwer Oberbürgermeisters. Und nun auch in Nagold, wo nach der Mahnwache auch noch in der evangelischen Kirche zum Friedensgebet eingeladen wurde.

Tiefe Betroffenheit

Dass man technisch nicht so recht dem Anlass entsprechend ausgestattet ist, rückt in diesem Moment in den Hintergrund. Die Teilnehmer der Mahnwache hören eh genau hin. Das macht den Moment noch intensiver. Die Gruppe "Forum für Demokratie" hatte eingeladen. "In tiefer Betroffenheit soll der ukrainischen Bevölkerung gedacht werden, die in diesen Tagen in einem schrecklichen Krieg mitten in Europa letztlich auch unsere Freiheit verteidigt und dabei allergrößte Opfer auf sich nimmt", heißt es in der Ankündigung. Hinter dem "Forum für Demokratie" stehen bekannte Gesichter. Wolfgang Herrling zum Beispiel, der auch die Begrüßung übernimmt. Ulrich Hartmann, der ein Stück auf der Gitarre spielt. Oder Ulrich Mansfeld – ehemaliger FDP-Stadtrat, langjähriger Vorsitzender der Urschelstiftung und nicht zuletzt in Nagold auch wegen seiner jahrzehntelangen Arbeit als Kinderarzt höchst angesehen.

"Ein starkes Zeichen"

Mansfeld ist einer der Redner. Er erinnert an die ungezählten Menschen, die leiden, an das Unvorstellbare, dass nun aber Realität ist: "Krieg mitten in Europa". Betroffenheit und Sorge wolle man mit der Mahnwache ausdrücken – aber auch "ein starkes Zeichen setzen". Mansfeld erörtert weiter: "Wir sind absolut solidarisch mit der geplagten und notleidenden Bevölkerung in der Ukraine." Und der ehemalige Nagolder Kinderarzt blickt auch bereits voraus – auf die Flüchtlingsströme. Nagold habe sich da schon mehrfach bewährt. "Die Nagolder waren und sind hilfsbereit, sie haben ein offenes Herz für Notleidende", sagt Mansfeld.

Unter den Rednern ist auch Anna Ohnweiler, engagiert für Kinder und Familien im Nagolder Bürgerforum, aber auch bei den Omas gegen Rechts. "Dieser Krieg wird Spuren hinterlassen, bei vielen Menschen Wunden aufreißen und Menschen traumatisieren", ist sie überzeugt. Kriege und Diktaturen würden einem die Luft zum Atmen nehmen, mahnt Ohnweiler und fügt hinzu: "Ich kann es sehr gut verstehen, wenn die Menschen ihre Freiheit, mit allem was sie haben, verteidigen." Auch Ohnweilers Blick geht in die Zukunft, auf die Flüchtlinge aus der Ukraine. "Es werden ganze Familien auseinandergerissen", macht die Rednerin deutlich. Sie, die selbst fast 30 Jahre in einer Diktatur lebte, ehe sie vor 42 Jahren in ihre jetzige sichere und demokratische Heimat Deutschland kam. Ohnweiler weiter: "Es kommen Menschen zu uns, welche unsere ganz besondere Hilfe brauchen." Und dann zitiert sie noch einen eindrucksvollen Satz aus einem eigenen Facebook-Post: "In Kinderhände gehören Spielzeug und manchmal auch bunte Kreide, doch keinesfalls Granatsplitter oder sogar Blut!"

Aufgewühltes Seelenleben

Es ist viel Betroffenheit spürbar unter den Teilnehmern der Mahnwache. Und Solidarität. Doch die Ohnmacht bleibt. Wohl auch bei Anna Weinbender, einer in Deutschland lebenden Ukrainerin. Sie gibt Einblicke in ihr derzeitiges aufgewühltes Seelenleben. Sie berichtet von der Cousine aus Kiew, die es nach den ersten Raketen-Beschüssen mit ihrer Familie gerade noch aus der Stadt raus geschafft habe. "Viele andere haben es nicht. Viele wollen es auch nicht!" Wie jene Tante bei Kiew, zu deren Alltag es seit Tagen gehöre, im Keller zu leben, und deren Mann jetzt an der Front kämpfe. Anna Weinbender berichtet von den Kriegsauswirkungen auf ihre Bekannten und Verwandten in der Ukraine. Und von ihrem traurigen neuen Alltag, mehrmals täglich mit der ganzen Familie zu telefonieren, um morgens, mittags, abends hoffentlich zu erfahren, "wir sind ok". Doch "ok" sei es eben nicht, in Europa unter Raketenbeschüssen aufzuwachen oder in Kellern zu übernachten. Sehr emotional klagt die Ukrainerin an: "Seit wann ist es ok, dass die Träume, Pläne und das Alltagsleben der Millionen normalen Menschen wie Sie und ich von einem Wahnsinnigen zerstört werden, der meint, dass unser Land und unsere Freiheit ihm gehört?"

Zerbrechliche Sicherheiten

Den Abschluss macht Daniel Geese, SPD-Stadtrat und evangelischer Pfarrer: "Jetzt ist Krieg. Mal wieder. Und Angst, und Gewalt und Zerstörung allenthalben. Christus ist, sagen wir, hoffen wir, glauben wir, bei denen, die leiden. Und bei aller Kraft, die in den Schwachen mächtig sein soll – gegen die Bomben hilft sie heute nicht." Weiter sagt er: "Wir stehen da und müssen erkennen, wie zerbrechlich unsere Sicherheiten sind, wie gefährdet unsere Ordnungen." Auch Geese ist es wichtig, dass die Not gesehen wird, dass die Menschen bereit sind zu helfen, zu spenden. Und denen Herberge zu geben, die keine haben.

Rund 400 Spaziergänger

Etwa 30 Minuten dauert die Mahnwache. In der Nähe tauchen immer wieder Gruppen von Polizisten auf. Doch sie sind nicht wegen der offiziell angemeldeten Mahnwache da, sondern wegen den so genannten Spaziergängern, jenen, die ihre Demonstrationen in Nagold nie anmelden, und wohl auch deshalb nie kundtun, wofür sie stehen, und wogegen sich ihr "Spaziergang" eigentlich genau richtet. An diesem Abend streifen sie auf ihrer Tour die Mahnwache am Fuß des Alten Turms aber kaum. Ob bewusst oder nicht – sie wählen ihren Weg diesmal vom Rathaus aus über die Burgstraße und die Bahnhofstraße. Es sind weniger Spaziergänger als sonst, die Polizei schätzt die Teilnehmerzahl auf 400. Die Polizei berichtet ebenfalls von etwa zehn Gegendemonstranten gegen die Spaziergänger – auch ein offiziell angemeldeter Protest, am Unteren Markt.

Und alles bleibt friedlich. Ein wichtiger Satz in diesen Zeiten.

Info: Anna Weinbender berichtet aus Kiew

Unter den vielen emotionalen Worten, die bei der Mahnwache am Alten Turm gesprochen wurden, sorgte Anna Weinbender als in Deutschland lebende Ukrainerin für besonders tiefe Einblicke. Hier einige Zitate.

■"24. Februar, 5 Uhr 20… Mich ruft meine Cousine aus Kiew an und sagt: ›Kiew wird von Raketen beschossen, wir fahren aus der Stadt raus….‹ Diesen Tag werde ich nie vergessen. Sie, ihr Mann und ihr zehnjähriger Sohn haben es aus Kiew raus geschafft… viele haben es nicht, viele wollen es auch nicht. Genauso wie meine Tante (...) mit zwei Kindern und alten Eltern. Seit fünf Tagen gehört es zu ihren Alltag - leben im Keller, tägliche Raketenangriffe, Explosionen, Schießereien und Angst, Angst ums Überleben. Ihr Mann ist jetzt an der Front und kämpft…. und sie, sie hofft wie alle anderen."

■"500 Kilometer östlicher sind die Verwandten in Kharkiv. Sie haben keinen Keller… Sie verstecken sich seit Tagen in der U-Bahn-Station oder in ihren Wohnungen im Badezimmer und hoffen, dass ihres Haus nicht erwischt wird."

■"200 Kilometer südlicher von Kharkiv ist mein Dnipro – meine millionengroße liebste Heimatstadt und meine engste Familie – Papa, Omas Tanten und Onkels, Cousinen und Cousins mit Kindern, beste Freunde und hunderte Bekannte, mit denen ich aufgewachsen und stark verbunden bin… Seit gestern gehen bei meiner Oma jede 1 bis 3 Stunden die Alarmsirenen wegen Luftangriff los. Sie wohnt in einem zehnstöckigen Blockhaus. So ist das ganze Wohngebiet. Die haben keinen Bunker, keine U-Bahn und keinen Keller… und Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich fühle, wenn ich die nicht erreichen kann… Gleich kommt der Gedanke: Ist es nur eine Verbindungsstörung oder…???"

■"Was mir Hoffnung macht – das sind die Menschen, die Menschen, die nicht aufgeben, die für ihr Land, für ihre Werte und ihre Zukunft sich stark gemacht haben. Sie sind Helden, die jetzt für den Frieden nicht nur im eigenen Land sondern auch für Frieden in Europa kämpfen! Die werden es schaffen! Andere Gedanke akzeptiere ich nicht!!!!"