Pirelli ist der einzige Reifenausstatter der Formel 1. Foto: imago images/Every Second Media/Phil Duncan

Rom schiebt dem chinesischen Großaktionär des Reifenherstellers, der zuletzt immer stärker interveniert hat, einen Riegel vor.

Der Reifenhersteller Pirelli ist mit seinen Hochleistungsreifen einer der letzten Großkonzerne Italiens von Weltruf. Doch das Unternehmen ist im Laufe der Jahre stark geschrumpft und steht seit langem unter ausländischer Kontrolle. Nun schob die Regierung dem chinesischen Großaktionär Sinochem/ChemChina, der 37 Prozent der Anteile hält, einen Riegel vor. Über die sogenannte Golden-Power-Regelung machte Rom von der Möglichkeit Gebrauch, die Befugnisse des Aktionärs massiv einzuschränken.

Pirelli ist mit einem Umsatz von 6,6 Milliarden Euro und einem Nettogewinn von 436 Millionen Euro sehr rentabel und an der Börse 4,4 Milliarden Euro wert. Dabei stand der Konzern nach der gescheiterten Übernahme der deutschen Continental Anfang der 90er-Jahre vor der Pleite. Der damalige Chef Leopoldo Pirelli musste gehen. Sein Schwiegersohn Marco Tronchetti Provera brachte das Unternehmen auf Kurs, verkaufte die Glasfasersparte zu einem attraktiven Preis und vereinfachte die verschachtelte Konzernstruktur.

Doch der Einstieg bei Telecom Italia (TIM) war ein fataler Fehlschlag. Pirelli stieg mit hohen Verlusten aus. Tronchetti Provera trennte sich vom Kabelgeschäft (heute Prysmian) und wurde vom Jäger zum Gejagten. Die russische Rosneft wurde größter Anteilseigner. Dann erwarb 2015 die chinesische ChemChina für sieben Milliarden Euro die Mehrheit und brachte das Unternehmen 2017 an die Börse. Der Anteil wurde auf 37 Prozent reduziert. Pirelli verkaufte das Geschäft mit Industriereifen, konzentrierte sich auf Hochleistungsreifen.

Mit 75 Jahren immer noch an der Spitze

Tronchetti Provera steht mit 75 immer noch an der Spitze. Mit dem chinesischen Aktionär schien der „Dottore“ eine ideale Lösung gefunden zu haben. In einem Statut hatte er sich sicherstellen lassen, dass der Firmensitz sowie ein Großteil von Forschung und Entwicklung in Italien verbleiben: Und dass das Management italienisch bleibt. Geändert werden konnten diese Regeln nur mit einer Mehrheit von 90 Prozent des Kapitals. Da die von ihm geleitete Holding Camfin 14 Prozent der Anteile hält, hatte er ein Vetorecht. Doch das Statut wird alle drei Jahre neu verhandelt. Im Mai 2023 änderten sich die Regeln. Die Chinesen ließen sich mehr Einfluss, die letzte Entscheidung bei der Besetzung der Führung und eine Reduzierung der Vertreter der Holding Camfin im Verwaltungsrat festschreiben.

Da schritt die Regierung ein. Mit einer seit 2012 bestehenden Regelung, die 2019 erheblich ausgeweitet wurde, kann sie bestimmte Transaktionen in Wirtschaftssektoren, die „im nationalen Interesse“ liegen, blockieren oder dafür Bedingungen festlegen. 1300 Operationen wurden seit 2012 geprüft, sieben verboten, 35 mit Bedingungen genehmigt. Die in neuen Reifen eingebauten Sensoren gäben sicherheitsrelevante Informationen an die Bordcomputer und Smartphones weiter und erlaubten etwa eine Geolokalisation. Das sei für Italiens Sicherheit relevant. Sinochem soll nun keinen Zugang mehr zu sensiblen Informationen erhalten. Die Spitzenpositionen des Unternehmens werden weiter von Tronchetti Proveras Holding Camfin besetzt. Für strategische Entscheidungen braucht es eine Mehrheit von vier Fünfteln im Verwaltungsrat. Bei der außerordentlichen Hauptversammlung am 31. Juli sollen mindestens vier der zwölf Posten im Aufsichtsgremium von der italienischen Seite bestimmt werden, sodass diese ein Vetorecht hat. Ohne das Eingreifen Roms hätten Pirelli wegen der Rolle des chinesischen Staats im Unternehmen Sanktionen etwa in den USA gedroht.

„Eine unangemessene Behinderung“

China reagierte nur inoffiziell. Die Global Times, Zeitung der Kommunistischen Partei schrieb: „Der italienische Schritt stellt zweifellos eine unangemessene Behinderung eines chinesischen Unternehmens dar.“ He Jun, Direktor für makroökonomische Forschung beim chinesischen Think Tank Anbound, sagte dem „Corriere della Sera“, „der Vorfall mit Pirelli könnte Peking dazu veranlassen, seine Investitionen zu überprüfen“. Ausgerechnet jetzt machte Giorgio Luca Bruno (63), als stellvertretender Chef seit zwei Jahren Kronprinz Tronchetti Proveras, einen Rückzieher. Stattdessen soll nun der 50-jährige Andrea Casaluci, seit 2018 General Manager Operations bei Pirelli und seit 2002 im Unternehmen, Tronchetti Provera nach der Hauptversammlung folgen. Letzterer bleibt als Executive Vicepresident für den Strategieplan, die Beziehungen zum Aktionär, die Medien und die Anteilseigner im Unternehmen zuständig. Und er behält das letzte Wort bei der Bestellung des Chefs.

Pirelli kommentiert die Situation nicht. Doch der Aktienkurs ist auf Talfahrt. Theoretisch könnte Sinochem gerichtlich gegen die Entscheidung Roms vorgehen. Auf längere Sicht träumen manche in Italien von einer italienischen Lösung. Der italienische Bremsenhersteller Brembo ist mit sechs Prozent an Pirelli beteiligt.

Zulieferer der Formel 1

Unternehmen
Der Reifenhersteller Pirelli wurde 1872 in Mailand gegründet. Das Unternehmen stellt heute Hochleistungsreifen für Autos und Fahrräder her und ist alleiniger Zulieferer der Formel 1.

Kontrolle
Zwar hält der italienische Staat, der direkt oder über die Staatsbank Cassa Depositi e Prestiti (CDP) an Unternehmen wie dem Mineralölkonzern ENI, dem Versorger Enel, Telecom Italia, dem Rüstungskonzern Leonardo, der Bank Monte die Paschi di Siena oder der Post beteiligt ist, keine Anteile an Pirelli. Doch Rom kann etwa über die Golden-Power-Regelung in Unternehmen fast aller Wirtschaftssektoren sehr weitreichend intervenieren und tut das auch, etwa beim früheren Ilva-Stahlwerk von Taranto, wo der Staat auch die Anteile von Arcelor Mittal übernehmen will. bl