Foto: StN

Ausstellung in Lauffen zeigt, wie Attrappe des Bonatz-Baus Bomberpiloten in die Irre führte.

Stuttgart/Lauffen - Den Luftangriffen im zweiten Weltkrieg fiel in Stuttgart jedes zweite Haus zum Opfer. Noch schlimmer wären die Verwüstungen gewesen, hätte nicht eine bei Lauffen am Neckar gebaute Attrappe bis 1943 einen Teil des Bombenhagels abgefangen. Ein Bahnhof aus Sperrholz führte die Royal Air Force in die Irre.

Was sieht ein Bomberpilot in finsterer Nacht aus etwa 10000 Meter Flughöhe? Fast nichts. Deshalb klinkten die britischen Flieger ihre tödliche Fracht in der Regel aus, wenn sie Lichtschein in der Tiefe zu erkennen glaubten. Ein durch die Nacht leuchtendes Lämpchen zog die feindliche Flugzeugflotte an wie eine Glühbirne die Motten. Bahnhöfe und Industrieanlagen waren nicht nur ein kriegswichtiges Ziel, sondern durch die nötige Beleuchtung auch aus großer Höhe gut zu erkennen. Bürger, aus deren Häusern trotz der Verdunklungspflicht ein Lichtstrahl drang, mussten im zweiten Weltkrieg mit Gefängnis rechnen.

Die deutsche Luftwaffe allerdings nutzte das Fehlen technisch zuverlässiger Ortungssysteme auch für ein gigantisch anmutendes Täuschungsmanöver. Um die Royal Air Force in die Irre zu führen, legten die Nazis in der Einflugschneise deutscher Großstädte sogenannte "Scheinanlagen" an. Zum Schutz von Stuttgart etwa entstand im Jahr 1941 gut 30 Kilometer nordöstlich der Landeshauptstadt bei Lauffen am Neckar eine Attrappenstadt mit dem Tarnnamen "Brasilien". Einziger Zweck: Aus großer Höhe für Stuttgart gehalten zu werden und den Bombenhagel auf sich zu ziehen.

Kernstück der unter strengster Geheimhaltung stehenden und nur mit Sondererlaubnis zugänglichen Geisterstadt war eine detailgetreue Nachbildung des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Aus Holz und Leinwand wuchs der Bonatz-Bau im Gewann Weidenbusch ein zweites Mal aus dem Ackerboden - ein potemkinsches Dorf für die britischen Bomber. An Beleuchtung sparte die Luftwaffe beim Köder für die englischen Piloten nicht: Nach oben abgeblendete elektrische Lampen täuschten eine beleuchtete Gleisanlage vor, künstliche Lichtblitze sollten den Eindruck fahrender Straßenbahnen hervorrufen. Auf dem Gelände waren notdürftig zusammengezimmerte Baracken aufgebaut, Strohmatten markierten die umliegenden Straßen. Eine massive Flugabwehr mit 50 Geschützen und eine Batterie mit gut 30 starken Scheinwerfern bildete den realistischen Höhepunkt des Szenarios.

Die aus heutiger Sicht wie eine schlechte Filmkulisse anmutende Irreführung hatte Erfolg: Aus Angst vor der deutschen Flugabwehr mit ihren Flak-Geschützen wagten sich die englischen Piloten bis 1943 nur in der Nacht ins Feindgebiet und ließen ihre Bombenteppiche in aller Regel aus großer Höhe abregnen. Aus Heilbronn anfliegend, folgten die englischen Flugzeuge dem Lauf des Neckars - und fielen prompt auf den Trick mit der Attrappenstadt herein. Um den Piloten erfolgreiche Treffer vorzugaukeln waren in "Brasilien" sogar große Becken gemauert worden, in denen mit Benzin übergossenes Holz einen regelrechten Stadtbrand simulierte.

Aus der Luft betrachtet hat die Neckarschleife in Lauffen eine gewisse Ähnlichkeit mit Bad Cannstadt, auch die Lage in einem Talkessel konnte ortsunkundige Flieger auf die falsche Fährte locken. Allein im Kriegsjahr 1941 gingen über Lauffen etwa 1500 Splitterbomben und an die 100 Sprengbomben nieder. Bis 1943 hatten die Kulissenstadt und der als Geburtsort des Dichters Friedrich Hölderlin bekannte Weinort etwa 40 Luftangriffe abgefangen, die für Stuttgart bestimmt waren. Erst gegen Kriegsende wurde die Attrappenstadt aufgegeben - nach der Erfindung des Radars ließen sich die Bomberpiloten nicht mehr austricksen, mit den Peilstrahlen ging die Royal Air Force außerdem zum Angriff bei Tageslicht über. "Stuttgart im Loch - wir finden dich doch", stand auf Flugblättern, die Flugzeuge der Alliierten in der Region abwarfen.

Allerdings: Dass die Lauffener für Stuttgart zwei Jahre lang den Kopf hinhalten mussten, ist nur noch wenigen Zeitzeugen bekannt. Wegen Furcht vor Spionage und der strengen Geheimhaltungsvorschriften existieren kaum fotografische Dokumente von der Attrappenstadt, historische Unterlagen über die Täuschungsmanöver der Nazis sind offenbar nicht mal im Militärarchiv Koblenz zu finden. Nur verwackelte Amateuraufnahmen von eingesetzten Flakhelfern lassen sieben Jahrzehnte später die Ausmaße der Bomberkulisse erahnen. Nach dem Krieg entschuldigte sich Stuttgarts OB Arnulf Klett offiziell in Lauffen für den Missbrauch als Lockvogel - ein zum Dank überreichtes Gemälde mit Stuttgarter Stadtansichten ist laut dem Lauffener Museumsleiter Volker Friebel verschollen.

Vielleicht auch deshalb spürt eine Künstlergruppe aus der Region nun in einer Ausstellung im Lauffener Museum im Klosterhof der Scheinwelt "Brasilien" nach. Unter dem Namen Soup (Stuttgarter Observatorium Urbaner Phänomene) hat sich die Initiative schon durch die Ereignisse um Stuttgart 21 mit dem Thema Architektur und Attrappe befasst, bekannt wurde sie mit Pavillon und Bahnsteigwanderungen. "Für uns ist es bizarr, welchen Aufwand man vor 70 Jahren zum Schutz des Hauptbahnhofs betrieben hat - nur um ihn jetzt abzureißen", bringt Steffen Bremer das Credo der Gruppe auf den Punkt. Eine von Realschülern erstellte Lichtinstallation soll die Beleuchtung der virtuellen Gleise nachempfinden, Textprotokolle von einstigen Flak-Helfern ermöglichen Einblicke in private Erinnerungen. Skurril auch die Stellwände, an denen Dokumente über "Brasilien" hängen. Vor gut einem Jahrzehnt wurden sie im Stuttgarter Rathaus ausgemustert. Steffen Bremer ist sich sicher: "Die ersten Pläne von Stuttgart 21 haben sich die Stadträte exakt auf diesen Ständern angeschaut."