Seit sechs Monaten sucht Monika Beisler ihre Tochter Maria

Von Ralf Deckert

Freiburg. Über 8400 Menschen in Deutschland gelten als vermisst, viele davon Kinder und Jugendliche. Jeden Tag kommen Hunderte dazu, die zumeist schnell wieder auftauchen. Im Fall von Maria-Brigitte Henselmann (13) ist es anders: Von dem Mädchen fehlt seit genau einem halben Jahr praktisch jede Spur. Am Mittag des 4. Mai sagte sie ihrer Mutter, dass sie bei einer Freundin übernachten wolle. Sie packte ihre Hausaufgaben, ihr Handy und den Schlüssel und ging. Doch sie traf sich nicht mit ihrer Freundin, sondern mit dem 40 Jahre älteren Bernhard Haase aus Blomberg in Nordrhein-Westfalen. Und sie kam seither nicht mehr heim.

Etwa ein Jahr zuvor hatte Haase sich im Internet an das Mädchen herangemacht: Er gab sich als 14-jähriger aus, heuchelte Verständnis für die pubertären Alltagsprobleme Marias und fuhr nach Freiburg, um sie zu treffen. Die Sache flog auf: Haase wurde von seiner Frau angezeigt, als sie ihn im Kinderchat erwischte. Doch auf seinem PC fanden die Ermittler nichts, was für eine Anklage gereicht hätte. "Kein Wunder", sagt Marias Mutter Monika Beisler (49). "Man ließ ihm ja zwei Tage Zeit zum Aufräumen, bevor er den PC zur Polizei bringen musste." Vieles komme ihr "komisch" vor, wenn es um Haase, Maria und die Polizei geht, sagt Beisler. In Blomberg soll der 53-Jährige, der international wegen schweren sexuellen Missbrauchs und Kindesentziehung gesucht wird, einen Cousin bei der Polizei haben.

"Wenn es ein Land gibt, zu dem sie sich hingezogen fühlt, dann Spanien"

Von der These der Freiburger Polizei, wonach man verstärkt in Osteuropa nach Maria und dem Mann sucht, hält Monika Beisler wenig: "Maria würde da nicht bleiben wollen. Wenn es ein Land gibt, zu dem sie sich hingezogen fühlt, dann Spanien", sagt Beisler unserer Zeitung. Zur Erinnerung: Das Auto und der Hund Haases wurden im Juli in Polen gefunden, später gab es noch Hinweise aus Tschechien. Die Freiburger Polizeisprecherin Laura Riske räumt ein: "Die beiden könnten überall sein."

"Wenn mein Kind einen prominenten Nachnamen hätte, dann wäre es wieder da"

Neue Erkenntnisse habe man nicht. Eigentlich, so Monika Beisler, sei mit den Ermittlern einmal in der Woche ein Treffen ausgemacht. Meistens werde dies von der Polizei abgesagt, weil es keine neuen Informationen gebe. "Letzte Woche kam keine Absage, ich bin also sofort zur Polizei und dachte, dass es Neuigkeiten gibt", berichtet die Mutter. Doch die Ermittler hatten lediglich die Absage vergessen. Unterm Strich ist Monika Beisler nicht von der Arbeit der Polizei überzeugt: "Wenn mein Kind einen prominenten Nachnamen hätte, dann wäre es schon wieder da", sagt sie. Und: "Dass damals das Auto und der Hund von Herrn Haase in Polen gefunden wurden, hat man mir nur bestätigt, weil ich herausgefunden hatte, dass sich ein Polizeibeamter aus Freiburg zwei Wochen, bevor die Polizei damit an die Öffentlichkeit ging, im Internet verplappert hatte." Eine Ermittlungspanne, die die Freiburger Polizei unserer Zeitung bestätigt hat.

Dass Maria mit Zelt und Isomatte durch die Wälder Tschechiens ziehen soll, kann Beisler sich kaum vorstellen: "Zelten mag sie nicht, sie hat Angst vor Insekten." Wahrscheinlicher ist aus Sicht der Mutter, dass Haase mit dem Mädchen bei Komplizen untergetaucht sein könne. "Irgendjemand deckt ihn. Vielleicht irgendeine religiöse Sekte, ich weiß es aber nicht."

Die Ungewissheit zehrt an den Nerven der fünffachen Mutter, die in diesen Tagen zum zweiten Mal Oma geworden ist. Die ganz große Freude darüber spürt sie aber noch nicht. "Über allem liegt ein Schatten. Egal, ob im positiven oder im negativen Sinn, jede größere emotionale Regung wirft mich für Tage völlig aus der Bahn." Die Schlaftabletten, die man ihr gegeben hat, will sie dennoch nicht nehmen: "Ich könnte ja dann den entscheidenden Anruf verpassen." Mittlerweile ist sie in Psychotherapie. "Alles kostet richtig Kraft, ich will nicht darüber nachdenken. Es gibt bessere und schlechtere Tage für mich", umschreibt sie ihre Situation.

Dabei ist Monika Beisler eigentlich eine humorvolle Frau, die klar sagt, was sie denkt. Und die bei manchen Themen im Zusammenhang mit ihrer Tochter Maria eine richtige Stinkwut bekommt: über bestimmte Medien, die den Verschwundenenfall schon als "Liebesflucht" bezeichnet haben. Und über die These der Polizei, wonach Maria "freiwillig" mit Haase unterwegs sein soll. "Das ist sicher nicht mehr der Fall", sagt Monika Beisler. Sie ist überzeugt, dass Haase ihre Tochter manipuliert hat: "Mit einem schlechten Gewissen kann man sie immer kriegen", sagt die Mutter über ihr Kind. Für Haase wäre das einfach: Er hat alle Brücken hinter sich abgebrochen, was ein starkes psychologisches Druckmittel gegenüber dem Mädchen darstellen dürfte. "Damit kann er ihr Angst machen", ist Marias Mutter sicher.

Wenn es nach den Hellsehern geht, dann ist Maria fast überall gleichzeitig

Dass Maria "abgehauen" ist, war aus Sicht der Mutter eine Affekthandlung: Haase und das Mädchen hatten sich davor mehrfach in einem billigen Freiburger Hotel getroffen, wovon die Mutter natürlich nichts wusste. Aber am 4. Mai, als Maria offiziell zum Übernachten zu ihrer Freundin ging, da hatte Monika Beisler "ein komisches Gefühl". Sie rief Maria mehrfach auf dem Handy an, doch die Tochter wollte nicht sagen, mit wem sie unterwegs war. "Es kam mir komisch vor, ich hab’ ihr dann gesagt: Ich habe Angst, ich ruf jetzt die Kripo an." Seither ist Marias Handy verstummt.

Maria sei eher ein rebellischer Teenager, der alles ausprobieren will, berichtet Monika Beisler. "Wenn man sie konfrontiert, macht sie dicht." Wütend darüber, dass ihre Tochter sie belogen hat, ist die Mutter dennoch nicht wirklich: "Ich war auch mal 13 und habe Zeug gemacht, das verboten war. Vermutlich hat Maria gedacht, dass sie alles im Griff hat."

Aber wo steckt die 13-Jährige? Wenn es nach den Hellsehern geht, die Monika Beisler in den vergangenen Monaten ungefragt angesprochen haben, dann ist Maria fast überall gleichzeitig: "Das deckt ganz Europa ab. Wenn man komplett durchdrehen will, dann ist das der richtige Weg. Einer hat gesagt, sie sitze gefesselt im Keller", berichtet die Mutter. "Das geht nicht, das muss man wegdrücken."

Immer wieder nehmen auch Frauen Kontakt mit ihr auf, die selbst in der Hand von Pädophilen waren. Die eine vier, die andere zehn Monate lang. "Daran hangelt man sich entlang und glaubt, dass es nach so und so langer Zeit einfach zu Ende sein muss." Zum Glück, so Monika Beisler, bedeutet ihr Weihnachten nicht viel, aber sich den 14. Geburtstag Marias im kommenden April ohne Kind vorzustellen, das sei schwer zu ertragen.

Wie es weitergehen soll, wenn Maria eines Tages wieder auftaucht? "Pläne sind für mich utopisch", sagt Monika Beisler. Nach wie vor ist sie mit ihrem Unterstützerkreis im Internet auf der Suche nach ihrer Tochter. Doch online werde sie immer wieder anonym angefeindet: "Es ist ein Abgrund, man hat mir schon unterstellt, dass ich mit den Spenden vom Hilfskonto des Weißen Rings auf die Malediven fliegen will", berichtet Beisler. Obwohl sie im Internet bei der Suche auch Freundschaften geschlossen hat, ist ihr klar: "Wenn das durchgestanden ist, dann bin ich erstmal raus dem Netz!"