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Rechtsanwältin Sabine R. erschießt in Lörrach zwei Menschen / Sohn stirbt durch stumpfe Gewalt / Motiv unklar

Von Guido Neidinger Lörrach. Absperrbänder überall, Polizisten sichern Spuren. Erste Trauernde legen Blumen nieder und entzünden Kerzen. Am Tag nach dem schrecklichen Amoklauf von Lörrach, bei dem drei Menschen und die mutmaßliche Täterin am Sonntagabend starben, lichtet sich der Schleier. Der Tatablauf ist geklärt. Fragezeichen stehen aber weiter hinter den Beweggründen für die Bluttat.

Viele vermeintliche Fakten, die bisher veröffentlicht wurden, mussten gestern revidiert werden. Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand tötete die 41-jährige Anwältin Sabine R. in ihrer Wohnung am Rande der Lörracher Innenstadt zunächst ihren fünfjährigen Sohn, offenbar mit einem stumpfen Gegenstand, wie der Leiter der Staatsanwaltschaft Lörrach, Dieter Inhofer, gestern Abend bekanntgab.

Die 41-Jährigedreht sich ruhig um, zielt – und schießt

Später erschoss sie den von ihr getrennt lebenden Ehemann, der in die Wohnung kam; möglicherweise, um den gemeinsamen Sohn abzuholen. Der Junge lebte unter der Woche beim Vater. In der Wohnung unterhielt die Frau, die 2009 als Anwältin zugelassen worden und zuvor als Juristin bei einem Unternehmen tätig war, ihre Kanzlei. Mit einer erheblichen Menge Nitroverdünnung setzte Sabine R. die Wohnung gegen 18 Uhr in Brand. Dies führte zu einer heftigen Explosion. Nach der Schreckenstat lief sie ruhig, ohne Eile, zum nur wenige Meter entfernten katholischen St. Elisabethen-Krankenhaus. Laut Staatsanwaltschaft hatte sie dort 2004 eine Fehlgeburt erlitten. Ob sie deshalb die Klinik als Ziel gewählt hat, bleibt unklar.

Offenbar war die spätere Täterin schon am frühen Nachmittag in dem Krankenhaus gewesen. Das Aktionskomitee "Kind im Krankenhaus" (AKIK) hatte dort einen Infostand aufgebaut. "Hat man hier schon etwas über den Amoklauf gehört?", fragte die Frau freundlich ein verblüfftes AKIK-Mitglied und verschwand. Sie habe keinen verwirrten Eindruck gemacht, erklärte Monika Werner, AKIK-Landesvorsitzende, später.

Auf dem Weg zum Krankenhaus lief der Amokläuferin eine Besuchergruppe der benachbarten Baptistengemeinde über den Weg, die von der heftigen Explosion aufgeschreckt worden war. Ernst Barth, ein Mitglied der Gruppe, forderte die Frau auf, ihre Waffe, laut Polizei eine Walther Long Rifle Kleinkaliberpistole, fallen zu lassen. Darauf habe die Frau sich ruhig umgedreht, auf ihn gezielt – und geschossen. Der Schuss streifte seinen Kopf und fügte dem Mann eine Fleischwunde zu. Ein zweiter Passant, offenbar der Geistliche der Baptistengemeinde, wurde im Rücken getroffen. Lebensgefahr besteht laut Polizei nicht.

Im Elisabethen-Krankenhaus lief die Frau in die gynäkologische Abteilung im ersten Obergeschoss, wo sie auf einen 57-jährigen Pfleger aus Weil am Rhein traf. Der Mann wurde später von der Polizei tot im Flur aufgefunden – mit mehreren Stich- und Schussverletzungen. Ob der Mann sich der Täterin entgegengestellt hatte oder ihr zufällig über den Weg gelaufen war, konnte Polizei-Einsatzleiter Michael Granzow weder bestätigen noch dementieren. Klar ist aber, dass Sabine R. neben der Pistole auch "eine Art Fahrtenmesser" bei sich trug, mit dem sie auf den Pfleger einstach. Ob der Mann durch Stiche oder Schüsse starb, war gestern laut Staatsanwaltschaft unklar.

Inzwischen waren zwei Lörracher Polizeibeamte in die gynäkologische Abteilung vorgedrungen und forderten die Frau auf, sich zu ergeben. Doch die 41-Jährige eröffnete laut Granzow das Feuer und schoss auf die Tür eines Zimmers, in dem sich eine Patientin und fünf Besucher befanden. Diese verbarrikadierten sich, schoben ein Bett vor die Tür. Mehrere Kugeln durchschlugen diese, verletzt wurde jedoch niemand.

15 Polizeibeamte hinderten die Frau daran, zu entkommen. Als sie weiter wild um sich schoss und einem Polizisten einen Beindurchschuss zufügte, erwiderten die Beamten das Feuer und töteten die 41-Jährige laut Polizeipräsident Bernhard Rotzinger "durch mehrere Schüsse am ganzen Körper". Bei aller Tragik wurde dadurch möglicherweise noch Schlimmeres verhindert: Bei der Täterin fand die Polizei später etwa 300 Schuss Munition und das Messer.

Bei der Amokläuferin handelt es sich um eine Sportschützin, die 1996 Mitglied eines Schützenvereins im nordbadischen Mosbach war. Laut Oberstaatsanwalt Dieter Inhofer besaß die in Oggersheim geborene Frau eine gültige Waffenbesitzkarte. Außerdem verfügte sie über zwei angemeldete Büchsen und eine Doppelflinte, die bisher nicht gefunden wurden.

Nach den Worten Inhofers soll die Frau in jüngster Zeit "psychisch angespannt" gewesen sein. Erkenntnisse, dass sie sich in psychiatrischer Behandlung befunden habe, gebe es aber nicht. Auch für einen ungeklärten Sorgerechtsstreit um den Sohn sieht die Staatsanwaltschaft keinen Anhaltspunkt.

Bei einer Mahnwache drücken Bürgerihr Mitgefühl aus

Obwohl die Täterin in Lörrach ihre Kanzlei betrieb und dort wohnte, war sie laut der Lörracher Oberbürgermeisterin Gudrun Heute-Bluhm nicht dort gemeldet. 2005 habe sie sich abgemeldet. Bei dem seit Juni von ihr getrennt lebenden Mann, der wie sie selbst aus der Pfalz stammte und in einer kleinen Gemeinde im Landkreis Lörrach wohnte, handelt es sich um einen 44-jährigen Schreiner.

"Fassungslos über diese menschlichen Abgründe" zeigte sich die Oberbürgermeisterin. "Es ist nicht schön, wenn eine Stadt durch eine solch unfassbare Tat national und international in die Schlagzeilen gerät", sagte sie sichtlich betroffen und um Fassung ringend in die Fernsehkameras. Auch für die Bürger der Stadt sei diese schreckliche Tat "schwer zu ertragen".

Ihrer Betroffenheit können die Lörracher und Gäste in einem Kondolenzbuch Ausdruck verleihen. Außerdem gibt es ein Online-Kondolenzbuch. Für die Familie des getöteten Pflegers, der eine Frau und drei Kinder hinterlässt, hat die Stadt ein Spendenkonto eingerichtet.

Bei aller Fassungslosigkeit zeigte sich der Generalstaatsanwalt Uwe Schlosser, der sich vor Ort ein Bild von der Lage machte, gestern erleichtert, dass nicht ein noch größeres Blutbad angerichtet wurde. Ähnlich hatte sich am Vormittag auch Landesinnenminister Heribert Rech (CDU) in Lörrach geäußert.

Den Polizeibeamten, die den Amoklauf beendeten, sprachen Rech und Schlosser ebenso wie der Freiburger Polizeipräsident Bernhard Rotzinger ihr Kompliment für ihren mutigen Zugriff aus. Eine andere Möglichkeit, als die wild um sich schießende Täterin zu töten, sah Rotzinger nicht. Mehrere Geschosse seien unmittelbar neben den Beamten eingeschlagen, ein Polizist sei schließlich schwer verletzt worden.

Bei einer Mahnwache und einem stillen Gedenken in der Christuskirche drückten gestern Abend zahlreiche Bürger ihr Mitgefühl aus – nur einen Steinwurf von den Tatorten entfernt, an dem am Abend zuvor vier Menschen starben.