Nähe in Zeiten des Abstands erzeugen – dieser schwer lösbaren Aufgabe hat sich das Zimmertheater gestellt, indem es die Premiere des Kleist’schen Dramas "Prinz Friedrich von Homburg" als Live-Stream zeigte. Diese "Notlösung" wurde zu einem Experiment, das dem Zuschauer einen ganz neuen Blick eröffnete.
Rottweil - Schon seit vielen Monaten bleibt den Zuschauern der Gang in den Theatersaal, die kurze Exkursion in eine andere Zeit und Welt, ebenso verwehrt wie den Schauspielern des Zimmertheaters der Applaus und das unmittelbare Feedback des Publikums.
Beim Live-Stream am Freitag bekamen sie dieses in Form von Chatnachrichten, mit denen die rund 90 Zuschauer auf das auf der Video-Plattform Youtube Gesehene reagieren konnten.
Die besondere Herausforderung, den Zuschauer trotz der Distanz ins Geschehen eintauchen zu lassen und die imaginäre vierte Wand" – die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum – einzureißen, meisterte das Zimmertheater-Team um Peter Staatsmann und Bettina Schültke durch die besondere Filmweise.
Geglücktes Experiment
So war es keine statische Aufzeichnung der Aufführung aus einem Winkel. Stattdessen hatte jeder Schauspieler eine eigene Kamera, die auf sein Gesicht gerichtet war und jede Regung festhielt. Wer zu sehen war, bestimmte Regisseur Peter Staatsmann am Schnittpult live.
Durch diese Ultra-Close-Ups war der Zuschauer den Emotionen der Schauspieler und damit auch dem Geschehen ganz nah und konnte tief eintauchen. Damit wurde aus der Darbietung kein Abklatsch einer Face-to-face-Aufführung, sondern eine ganz andere Art des Erlebens eines Theaterstücks – ein Experiment, das glückte.
Der Fokus lag ganz auf der Mimik der Schauspieler, die trotz der ungewöhnlichen Umstände und der bewusst reduzierten Mittel – auf aufwendige Kostüme und viele Requisiten wurde verzichtet - eine beeindruckende Performance zeigten.
Hinzu kam, dass es sich mit "Prinz Friedrich von Homburg" um ein Stück handelte, das nichts an Aktualität eingebüßt hat. Es geht um einen Prinzen (Lukas Kientzler), der sich dem Befehl seines Kurfürsten (Meinolf Steiner) widersetzt und dafür – trotz seines Sieges – für seinen Ungehorsam bestraft werden soll.
Ein Stück, aus dem sich zahlreiche Fragen ergeben, die auch jetzt in Zeiten von Corona immer wieder gestellt werden. Ist das Wohl des Einzelnen wichtiger oder das der ganzen Gesellschaft?
Der Prinz findet sich zwischen Traum und Wirklichkeit wieder, zwischen Wunsch und Pflichtbewusstsein, zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Freiheit und Aufopferung. Verträumtheit weicht Tatendrang und Euphorie, der wiederum Sorge und schließlich Todesangst weicht, ehe dem impulsiven Prinzen dann doch Gnade widerfährt. Doch es bleibt ungewiss, ob diese, die gleichsam die Versöhnung von Individuum und Staat, Freiheit und Gesetz bedeutet, real ist oder nur ein Traum bleibt.
Schlacht und Todesfurcht
Ein Moment, bei dem die Close-Ups den Zuschauer besonders stark ins Geschehen hineinzogen, war die Szene der Schlacht von Fehrbellin von der Mauerschau-Perspektive aus. Die Schlacht selbst erlebt der Zuschauer nur durch die Ausrufe und Schilderungen des Prinzen, der Prinzessin Natalie von Oranien (Nora Kühnlein), des Grafen Heinrich von Hohenzollern (Stephan Müller) und des Obristen Kottwitz (Martin Olbertz). Auch in der Todesfurchtszene zeigte sich, wie die Ultra-Close-Ups ein intensives Erleben der gezeigten Emotionen ermöglichen.
Elisabeth Kreuzer (Kurfürstin, Gesang) und Dorin Grama steuerten die passende musikalische Untermalung der Szenen bei und verstärkten das Gesehen auf einer anderen Ebene.
So war etwa mehrfach "The Mercy Seat" von "Nick Cave & The Bad Seeds" zu hören – ein Lied über Angst, Auflehnung, Verzweiflung und eine Hoffnung auf Erlösung. Der "Gnadenstuhl" oder "Gnadenthron" bezieht sich im Lied zum einen auf den elektrischen Stuhl, zum anderen auf Gottes Thron. Im Stück wurde dieser mit der Hoffnung des Prinzen auf Gnade verknüpft.
Kleists Stück steckt voller Symbolik und wird zudem von der pathetischen, hochkomplexen Sprache getragen, die es dem Zuschauer unmöglich macht, sich einfach nur berieseln zu lassen. Man musste zuhören, mitdenken, mitfühlen.
Insgesamt war der Live-Stream ein Erlebnis, das nicht mit dem im Theatersaal verglichen werden sollte – der Blick des Zuschauers wurde durch die Kamera gelenkt, und eine Gesamtsicht auf das Bühnengeschehen gab es nicht – sondern das vielmehr etwas Neues bot: eine besondere Nähe auf Distanz.