Foto: Petsch

Große Landesausstellung des Linden-Museums im Kunstgebäude sucht neue Horizonte.

Stuttgart - Weil Ethnologen in langen Zeiträumen denken, müssen sie sich oft in Geduld üben. Das gilt auch für das Linden-Museum. In der langen Geschichte der Großen Landesausstellungen, die 1977 mit den Staufern begann, ist jetzt das Völkerkundemuseum an der Reihe. Endlich.

Weltsichten - Blick über den Tellerrand. Der Titel der Ausstellung im Kunstgebäude am Schlossplatz ist durchaus doppelsinnig zu verstehen. Das Auge des Betrachters soll, so die Absicht der Ausstellungsmacher um Museumsdirektorin Inés de Castro, auf den Reichtum und die kulturelle Vielfalt in der Welt gelenkt werden. Gleichzeitig aber gewährt die Ausstellung einen Blick nach innen, hinein ins eigene Haus, das in den vergangenen Jahren immer enger geworden ist. Der Blick über den Tellerrand ist so auch ein Blick heraus aus dem beengten Kessel des Museums, in dem man gezwungenermaßen und viel zu lange im eigenen Saft schmorte.

In den eigenen Räumen hat das Linden-Museum keinen Platz

160.000 Objekte umfasst die Sammlung des Linden-Museums, das vor 100 Jahren gegründet wurde. Doch die Schätze, die anfangs von Karl Graf von Linden gesammelt und bis heute laufend ergänzt wurden, die dem Haus einen Spitzenplatz unter den europäischen Völkerkundemuseen gesichert haben, schlummern meist in den Archiven.

Das Dilemma ist seit Jahren bekannt und wird ebenso lange vergeblich beklagt: Das Haus am Hegelplatz hat nur Platz für eine Dauerausstellung, die für Sonderschauen in der Regel abgebaut und zwischengelagert werden muss. Verdienst der Großen Landesausstellung, die am Samstag, 17. September, eröffnet wird, ist es, viele dieser verborgenen Schätze endlich ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen.

Als Wermutstropfen empfinden die Macher der Großen Landesausstellung die Tatsache, dass sie ihre Spitzenobjekte nicht im eigenen Haus am Hegelplatz zeigen können, sondern ins Kunstgebäude am Schlossplatz ausweichen müssen. Trost spendet da Jürgen Walter, Staatssekretär im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, dessen Haus die Ausstellung mit 1,5 Millionen fördert. "Die Ausstellung Weltsichten bringt die Kultur mitten in die Stadt", sagt Walter. Gleichzeitig aber räumt er ein, dass das Linden-Museum am Hegelplatz "von vielen gar nicht wahrgenommen wird". Schuld ist auch die beengte räumliche Situation. Für den Politiker "ist klar, dass das Linden-Museum in seiner heutigen Form den modernen Herausforderungen nicht gewachsen ist". Deshalb werde die Landesregierung in den nächsten Jahren die Bemühungen intensivieren, für das Linden-Museum eine Lösung in Form eines Neubaus oder eines Erweiterungsbaus zu finden.

Auf Vitrinen wird möglichst verzichtet

Bis zum Sonntag, 8. Januar, können die Ausstellungsmacher nun ihre Objekte in den großzügigen Räumen des Kunstgebäudes zeigen. "Wir haben hier Platz für eine wirkungsvolle Inszenierung", sagt Inés de Castro. Damit werde eine neue Richtung für das Linden-Museum eingeschlagen, greift die Chefin die Versprechungen vonseiten der Politik erfreut auf. Der neue Ausstellungsstil, der jetzt in der Praxis erprobt wird, setzt auf einen möglichst unverstellten Blick auf die Objekte. Wann immer es möglich ist, wird auf Vitrinen verzichtet, um die Stücke wirkungsvoll ins Licht zu rücken. Das lohnt sich, auch wenn während der Ausstellungszeit etliche Besucher durch zu große Neugier die unsichtbaren Lichtschranken überschreiten und so schrille Alarmtöne auslösen dürften.

Wie moderne Präsentation von Museumsobjekten aussehen kann, ist im Eingangsbereich der Ausstellung zu erleben. Im Kuppelsaal des Kunstgebäudes sind auf zwei schrägen Ebenen lebensgroße Skulpturen aus allen Teilen der Welt ins Szene gesetzt, die trotz ihrer höchst unterschiedlichen Ausdrucksform eine überraschend ähnliche ästhetische Wirkung ausstrahlen. "Jedes Stück ist ein Stück Wissen, ein Stück Erklärung dieser Welt", knüpft Ingrid Heermann, die Kustodin der Ozeanien-Abteilung, die Verbindung zwischen den Schnitzfiguren schwangerer Frauen aus Kamerun, den Totenfiguren aus Pakistan, dem japanischen Himmelskönig Virudhaka, den Giebelmasken aus Papua-Neuguinea und dem mittelalterlichen Buddhakopf aus Thailand.

Karle, der Kobold, stellt den Kindern Aufgaben

Erstmals sind in einer Ausstellung alle sieben Regionalabteilungen des Linden-Museums gemeinsam vertreten. Beim Blick über den Tellerrand wird auf die sonst übliche Darstellung geografischer Großregionen verzichtet. Stattdessen ist verbindendes Element und übergeordnetes Thema der Mensch in seiner Welt. Umkreist wird die Antwort auf die großen Grundfragen seiner Existenz und seines Zusammenlebens.

Inhaltlich gliedert sich die Ausstellung in verschiedene Fragenkomplexe. Wie gehen die Völker in den verschiedenen Weltregionen und zu unterschiedlichen Zeiten mit künstlerischen Ausdruckformen um, welche Insignien machen Unterschiede der Macht und des Ansehens sichtbar, wie manifestiert sich in den verschiedenen Winkeln der Welt Privatheit und Offenheit, wie gestalten sich der Umgang und Beziehungen der Geschlechter?

Ein zutiefst menschliches Thema ist auch der Umgang mit dem Tod und die Erinnerung an die Ahnen. Prunkstück der Ausstellung ist ein sechs Meter langes Totenschiff aus Papua-Neuguinea mit Schnitzereien, die an die Taten des Verstorbenen erinnern. Eines der wenigen Ausstellungsstücke aus der Gegenwart knüpft ebenfalls die Verbindung zum Jenseits. In Originalgröße ist ein kunterbunter Gabenaltar, eine Ofrenda, aufgebaut, mit der in Mexiko an Allerheiligen die Familien mit Hilfe von Essen, Tabak, Schnaps, den Lieblingsbüchern, Totenschädeln aus Zucker und dem Duft der Totenblume Tagetes die Seelen der Verstorbenen für drei Tage wieder ins Haus locken.

Lockmittel für die Kinder ist der Ausstellungskobold Karle, der ihnen überall begegnet und kleine Rätsel aufgibt. Karle, das klingt zwar ziemlich provinziell, der Name ist aber eine Verbeugung vor dem Museumsgründer Karl Graf von Linden. Die Comic- Figur mit großen Glupschaugen und spitzen Ohren erinnert an einen Alien. Und damit geht der Blick weit über den Tellerrand der Erde hinaus.

Infos zur Ausstellung

Die Große Landesausstellung Weltsichten dauert vom 17. September 2011 bis 8. Januar 2012. Gezeigt wird sie im Kunstgebäude am Schlossplatz.

Die Ausstellung wird am Freitag, 16. September, um 19.30 Uhr mit einem öffentlichen Fest im Kunstgebäude eröffnet.

Zum Eröffnungsfest will das Museum den "internationalsten Chor der Welt" singen lassen und damit ins Guinness-Buch der Rekorde. Gesucht werden Menschen aus möglichst vielen Nationen als Mitsänger. Geprobt wird am Freitag um 18 Uhr. Anmeldung unter 0711/2022-409 oder bauernfeind@lindenmuseum.de

Die Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Mittwoch 10 bis 20 Uhr, Montag, 3. Oktober, 10 bis 18 Uhr.

Der Eintritt beträgt zehn Euro, ermäßigt acht Euro. Kinder bis zwölf Jahren erhalten freien Eintritt. Für sie gibt es gratis das Entdeckerbuch durch die Ausstellung.

Gruppenführungen können unter 0711/2022-579 oder fuehrung@lindenmuseum.de gebucht werden.