Seit geraumer Zeit kommt es immer wieder zu Lieferengpässen von wichtigen Medikamenten – etwa Antibiotika oder Fiebersäften für Kinder. Was sind die Gründe? Und wie kann man dem Problem begegnen? Das sagen Experten.
Rund ein Drittel der Menschen in Deutschland hat einer Umfrage zufolge zuletzt Probleme beim Kauf von Arzneien gehabt. 35 Prozent der Befragten haben in den vergangenen zwölf Monaten dabei Schwierigkeiten oder Knappheiten erlebt, zeigt eine Studie im Auftrag des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller. Wir geben einen Überblick über die wichtigsten Lösungsansätze:
Welche Medikamente sind derzeit schwer zu bekommen?
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte führt 483 Meldungen zu Lieferengpässen auf – bei rund 100 000 zugelassenen Arzneimitteln in Deutschland. Es mangelt an Fiebersäften für Kinder, an Antibiotika, Krebsmedikamenten und Blutdrucksenkern.
Was sind die Gründe?
Das Problem ist vielschichtig, sagt David Francas, Professor für Daten- und Lieferkettenanalyse an der Hochschule Worms. So hänge viel von der Produktionssicherheit ab. So gab es im Jahr 2018 das Problem, dass es bei der Herstellung des Blutdrucksenkers Valsartan zu Verunreinigung gekommen ist. Weil dieses Medikament aber nur von wenigen Firmen hergestellt wird, kam es zu Lieferengpässen. Ein weiteres Problem ist die Abwanderung der Produktion: Engpässe wie etwa bei Tamoxifen und Fiebersaft gehen vor allem auf den Marktaustritt generischer Hersteller zurück. Auch eine unerwartet hohe Nachfrage führt zu Lieferschwierigkeiten: So etwa ist derzeit das Diabetes-Medikament Semaglutid schwer zu bekommen, weil es als Hilfsmittel zum Abnehmen zweckentfremdet wird.
Was plant die Bundesregierung?
Die Bundesregierung setzt im Kampf gegen knappe Arzneien an mehreren Stellen an. So sollen größere Vorräte der Hersteller als Puffer dienen. Zum Auffangen kurzfristiger Störungen in der Lieferkette oder kurzzeitiger größerer Mehrbedarfe ist eine Pflicht zur mehrmonatigen Lagerhaltung geplant. Vorgesehen sind auch neue Preisregeln, die Lieferungen nach Deutschland für Hersteller attraktiver machen. Zudem sollen Antibiotika mit Wirkstoffproduktion in Europa bei Ausschreibungen von Kassenverträgen zusätzlich berücksichtigt werden.
Könnten Arzneimittellager Lieferengpässen entgegen wirken?
Francas warnt davor, Bundeswehrbunker zu neuen Medikamentenlager umzugestalten. „Solche Ansätze helfen lediglich den Mangel kurzfristig zu überbrücken, ändern aber nicht das Problem des Lieferengpasses.“
Kann die Produktion von Medikamenten nach Europa zurückgeholt werden?
Höchstens zu einem kleinen Teil, sagt Ulrike Holzgrabe, Seniorprofessorin für pharmazeutische und medizinische Chemie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Zwar sind Indien und China die weltgrößten Produzenten fertiger Generika. Allerdings werden auch dort die Wirkstoffe nicht innerhalb eines Werkes produziert und in Pillen oder Tabletten gepresst. „Vielmehr sind es viele unterschiedliche Firmen, die Vorstufen produzieren und die dann von den Pharmafirmen aufgekauft werden, um daraus das fertige Medikament herzustellen.“ Zu glauben, man könne eine solche komplexe Produktionskette in kurzer Zeit innerhalb Europas aufbauen, sei naiv. Holzgrabe schlägt vor, sich auf die Herstellung wichtiger Antibiotika zu konzentrieren – und entsprechend Unternehmen, die in diesem Bereich in Europa schon tätig sind, wirtschaftlich zu unterstützen. „Hierfür gilt es auf der EU-Ebene Rahmenbedingungen zu schaffen.“
Sind unsere Medikamente zu billig?
Gerade Hersteller von patentfreien Nachahmerarzneien, sogenannte Generika, beklagen großen Kostendruck und zu geringe Erstattungen der Krankenkassen, während die Preise für Medikamente weitgehend reguliert sind. Allerdings sieht der Lieferkettenanalytiker Francas darin nur einen geringen Nutzen: „Das mag in einzelnen Bereichen funktionieren – wie etwa bei den Fiebersäften. Aber die Lieferketten gerade im pharmazeutischen Bereich sind bei den meisten Herstellern so global, dass eine nationale Preisänderung da wenig Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Medikamenten hat.“
Welche Maßnahmen sollte die Bundesregierung zusätzlich ergreifen?
Wichtig ist es, die Lieferketten genau zu untersuchen und sie einem Art Stresstest zu unterziehen, schlägt David Francas. „Es geht darum genau zu untersuchen, wie sind die Abhängigkeiten? Wo kommen die Vorstufen her? Woher die Verpackung? Was braucht es alles für die Produktion?“ In den USA werden diese Untersuchungen schon gemacht. Ein solches Vorgehen vermisst Francas aber in Deutschland, aber auch in Gesamteuropa.