Sängerin und Kabarettistin Marianne Blum und Schauspieler Thomas Linke ließen Originaltexte von Anne Frank und Adolf Hitler aufeinanderprallen. Foto: Zimmermann

In der zutiefst aufwühlenden Lesung „Annes Kampf“ ließen im K3 in Winterlingen der Schauspieler Thomas Linke und die Sängerin und Kabarettistin Marianne Blum Originaltexte aus Hitlers „Mein Kampf“ auf Anne Franks Tagebuch aufeinanderprallen.

Auf der einen Seite das junge jüdische Mädchen, dass sich von 1942 bis 1944 vor den Nazis in einem Hinterhaus in Amsterdam verstecken musste und mit ihrem Tagebuch ein einzigartiges Dokument des Holocaust schuf, auf der anderen Seite die rassistischen Weltherrschaftspläne eines machtbesessenen Diktators.

 

Ein dünnes Heft voller Träume und Hoffnungen steht vorn auf der Bühne neben einer rund 800 Seiten dicken Hetzschrift voller Hasstiraden. Ein Tisch mit einem Stuhl und ein Stehpult: Mehr Requisiten braucht es nicht. Marianne Blum leiht ihre Stimme der Anne Frank und liest aus ihren Tagebuchaufzeichnungen. Es geht unter die Haut, wie sie den Textpassagen mit hoher Erzählkunst und wechselndem Kolorit eine unverwechselbare Identität einhaucht. Einfühlsam verbindet sie die Puzzles der Entwicklung von einem lebenshungrigen, unbekümmerten Mädchen mit Wünschen und Träumen, die langsam aber sicher zunehmenden Ängsten und Zweifeln weichen.

Erbarmungslos krallen sich die Worte im Gehirn fest

Unterbrochen werden die eher ruhig vorgetragenen Passagen durch Thomas Linke. Laut, dominant und erbarmungslos krallen sich seine Worte im Gehirn fest. Das Stehpult wird zur Kampfarena für Hitlers Rassen- und Größenwahn. Mehr als zwölf Millionen Mal wurde Adolf Hitlers Propagandaschrift „Mein Kampf“ bis 1945 gedruckt und unters Volk gebracht. Mit bemerkenswerter Offenheit hat Hitler darin seinen Antisemitismus und seine Weltherrschaftspläne ausgebreitet. Thomas Linke hat das Werk gelesen, musste es lesen. Es sei die schlimmste Erfahrung in seinem Schauspielerleben gewesen, gibt er unumwunden am Ende der Veranstaltung zu.

Die Lesung untermalt Marianne Blum mit Liedern aus der Zeit des Nationalsozialismus. Da waren jiddische Texte zu hören, Lieder, die in Ghettos und Konzentrationslagern entstanden wie „Die Moorsoldaten“, aber auch die seinerzeit große Zarah Leander mit ihrem „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“ und „Davon geht die Welt nicht unter“.

Ein Symbol für die Judenverfolgung

Für Anne Frank ging die Welt unter. Am 4. August 1944 wurden sie, die sieben anderen Untergetauchten im Hinterhaus und zwei ihrer Helfer verhaftet. Anne Franks letzter Tagebucheintrag datiert vom 1. August 1944. Im Februar 1945 stirbt sie im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Die Niederschrift ihrer Erlebnisse ist zu einem Symbol für die Judenverfolgung im Dritten Reich geworden.

„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“: Ein kalter Schauer läuft über den Rücken, als Thomas Linke Paul Celans Gedicht „Die Todesfuge“ rezitiert. Jenem Horror der Konzentrationslager verschaffte der Dichter, selbst ein Überlebender des Holocausts, in seinem Werk Ausdruck. Auch der Komponist Friedrich Holländer war ein Jude, der 1933 vor den Nazis nach Hollywood emigrieren musste. Berühmt geworden sind seine Chansons vor allem durch Marlene Dietrich. Sie singt nicht nur Gassenhauer wie den kessen Song „Von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“, sondern auch die melancholische und tiefgründige Melodie „Wenn ich mir was wünschen dürfte“. Dieses Lied zum Abschluss beinhaltete die Botschaft, sich über die eigenen Wünsche Gedanken zu machen.

Ein Abend, der Beklemmung auslöst

Der Applaus setzt erst nach einer Zeit des Innehaltens ein. Thomas Linke positioniert sich eindeutig: Wer für so komplexe Situationen einfache Lösungen anbiete, der lüge. Es war ein Abend, der Beklemmung auslöste. Denn, so die Botschaft, die Geschichte von Anne Frank und Adolf Hitler sei kein Rückblick auf eine abgeschlossene Vergangenheit. Sie reiche bis in die heutige Zeit, in der Hetze, Menschenfeindlichkeit und politische Radikalisierung an der Tagesordnung seien.