Sieben Wochen lang ist die Leonhardskirche Anlaufstelle für Obdachlose Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Seit Sonntag ist die Leonhardskirche wieder Vesperkirche. Hunderte Ehrenamtliche sorgen für Essen, aber auch für Veranstaltungen, bei denen sich die Gäste einbringen können.

Stuttgart - Ein dezenter Duft nach Bratensoße durchzieht den Eingangsbereich der Leonhardskirche, die bis zum März zur Vesperkirche wird. An langen Tafeln widmen sich die ersten Gäste ihrem Schweinehals mit Nudeln. Die Schlange derer, die noch auf ihre Portion warten, ist lang. Vor dem Gotteshaus wird geraucht, auch das eine oder andere Bier ist bereits geöffnet.

Alkohol und Nikotin sind unter dem Dach der Vesperkirche, die am Sonntag wieder ihre Pforten geöffnet hat, aber tabu. Ansonsten gelten für die Dauer der karitativen Institution eigene Regeln. „Ich war zuerst irritiert, als ich vor Jahren das erste Mal hier war und sah, dass Leute in den Kirchenbänken schliefen“, erinnert sich Stadtdekan Søren Schwesig, der beim Eröffnungsgottesdienst die Rolle der erkrankten Diakoniepfarrerin Karin Ott übernommen hat. „Dann habe ich verstanden, was es für diese Menschen bedeutet, ein bisschen Ruhe und Wärme zu finden – im doppelten Sinne.“

Rund 800 Helfer

Apropos Wärme: Der frühere Schuldekan in Ditzingen und Leonberg meldet Zweifel am häufig gezeichneten Bild einer gefühlskalten Gesellschaft an: „Hier sind fast 800 Helfer aktiv. Es gab sogar noch mehr Interessenten. Die mussten wir vertrösten, da die Grenzen unserer Kapazitäten erreicht sind.“ Er gehe davon aus, dass all diese Menschen das Thema Armut auch dann klar vor Augen haben, wenn die Vesperkirche vorbei ist.

Das Engagement reicht vom stundenlangen Brote-Schmieren für bis zu 500 Vesperpakete bis zu ärztlichem Beistand. Rund 12 000 Stunden werden die Ehrenamtlichen zwischen dem 18. Januar und dem 7. März im Einsatz sein. Dabei geht es nicht nur um die Grundversorgung mit Essen und Obdach. Niemand wird hier nur abgespeist. Ebenso wichtig ist die Art und Weise, wie den Gästen begegnet wird: mit Respekt. „Hier wird extra der Tisch für mich geputzt“, stellt einer von ihnen fest, „und niemand versucht, mich zu ändern.“ Er fühle sich nicht berechtigt, über die Besucher der Kirche zu urteilen, erklärt Schwesig: „Ob jemand vor der Türe Bier trinkt oder nicht, spielt für mich zunächst keine Rolle. Es steckt schließlich immer eine ganze Lebensgeschichte dahinter.“

Es geht nicht nur um materielle Armut

Akzeptiert werden und sich als vollwertiges Mitglied einer Gemeinschaft fühlen: Das ist für viele, die die Vesperkirche in Anspruch nehmen, etwas Besonderes. „Es gibt nicht nur eine Armut im Geldbeutel“, betont Ellen Ueberschär, die Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags. „Hinzu kommt oft eine innere Verarmung.“ Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, werde in der Leonhardskirche ebenfalls gemildert. Zumindest zeitweise. So können Gäste dort in den kommenden Wochen Fahrräder reparieren oder im Band- und Chorprojekt rahmenlos & frei mitwirken.

Mittellose Bürger werden nicht auf Almosenempfänger reduziert. Sie erhalten Gelegenheit, etwas zurückzugeben. So groß die Freude über zwei Jahrzehnte erfolgreicher Arbeit ist, das Vesperkirchen-Jubiläum hat auch eine Schattenseite: die bittere Erkenntnis, dass die Zahl der Mittellosen in Stuttgart nicht abgenommen hat. „Daran können diese sieben Wochen nichts ändern“, sagt Schwesig. „Wir können die Armut nicht abschaffen. Wir können sie aber thematisieren und ins Bewusstsein rücken.“