Bei erneuten Massenprotesten in Kiew haben Hunderttausende Anhänger der proeuropäischen Opposition um Vitali Klitschko mit Nachdruck einen Machtwechsel gefordert. Maskierte Unbekannte warfen am Rande der Demonstration dicke Stahlseile um eine Granitstatue von Revolutionsführer Lenin und stürzen das rund 3,50 Meter hohe Denkmal. Foto: dpa

Mit einem „Marsch der Million“ beschwören die Regierungsgegner zu Hunderttausenden den Geist der Orangenen Revolution. Es bleibt friedlich in Kiew, wenngleich ein prominenter Russe dran glauben muss.

Mit einem „Marsch der Million“ beschwören die Regierungsgegner zu Hunderttausenden den Geist der Orangenen Revolution. Es bleibt friedlich in Kiew, wenngleich ein prominenter Russe dran glauben muss.

Kiew - Der Kampfgeist der Demonstranten von Kiew ist auch nach mehr als zwei Wochen täglicher Proteste ungebrochen. An diesem bitterkalten Dezembertag füllen wieder Hunderttausende den Unabhängigkeitsplatz (Maidan) im Herzen der ukrainischen Hauptstadt. Sie wollen die proeuropäische Opposition um Boxweltmeister Vitali Klitschko mit einem friedlichen „Marsch der Million“ unterstützen. Jugendliche skandieren „Revolution, Revolution“ und drängen mit Nationalflaggen in der Hand zur Bühne.

Der Zorn der ersten Protesttage in der früheren Sowjetrepublik scheint zunächst ein wenig verflogen. Doch dann werfen maskierte Unbekannte am Rande der Demonstration dicke Stahlseile um eine Granitstatue von Revolutionsführer Lenin und stürzen das rund 3,50 Meter hohe Denkmal. Es ist auch ein Protest gegen die Annäherung der ukrainischen Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch an Russland.

Schreie wie „Weg mit dem Henker des ukrainischen Volkes“ sind rund um die gestürzte Statue zu hören. Wie Trophäen tragen Anhänger der rechtspopulistischen Partei Swoboda (Freiheit) Splitter des bekanntesten Lenin-Denkmals der Hauptstadt zum Maidan.

Unter den Zuhörern auf dem Unabhängigkeitsplatz ist auch die 65-jährige Ljudmila. „Ich gehe nicht weg, bis Präsident Viktor Janukowitsch abtritt“, sagt Rentnerin. Seit Beginn der Proteste gegen die prorussische Führung kommt sie fast täglich hierhin. Sie ist empört, dass Janukowitsch Ende November die Annäherung an die Europäische Union jäh gestoppt hat. „Ich bleibe solange, bis die Regierung zurücktritt, notfalls bis Mai“, sagt auch der 53-jährige Igor aus Wolhynien, einer Region im Nordwesten des Landes. Mit Nachdruck streicht er sich durch seine typische Kosakenfrisur.

In der Menschenmenge auf dem Platz bricht Jubel aus. Die Opposition gibt Janukowitsch 48 Stunden zur Entlassung der Regierung. Nach einem brutalen Polizeieinsatz gegen Demonstranten vor einer Woche steht auch Regierungschef Nikolai Asarow in der Kritik. Doch ein Misstrauensvotum gegen den Vertrauten von Janukowitsch ist vor wenigen Tagen im Parlament gescheitert. Mit dem „Marsch der Million“ hofft die Opposition nun auf neuen Rückenwind.

„Ich wende mich an die gesamte Ukraine - im Osten und im Westen“, ruft Klitschko von der Bühne und schwingt seine berühmten Fäuste. „Die gesamte Ukraine muss aufstehen und dieser Regierung in allen Städten den Streik erklären. Ja?“ „Ja“, tönt es aus der Menge zurück. Wieder werden Rufe laut nach einem Generalstreik, der die Regierung zum Einlenken zwingen soll. Aber sogar in Klitschkos Partei Udar (Schlag) räumen Abgeordnete ein, dass das kaum zu organisieren sei.

Die Ukraine ist tief gespalten in Osten und Süden

Denn der zweitgrößte Flächenstaat Europas ist tief gespalten in Osten und Süden, die als russlandnahe gelten, und einen proeuropäischen Westen. Hier demonstrieren am Sonntag ebenfalls rund 20 000 Menschen in der Großstadt Lwiw (Lemberg) für Neuwahlen.

In Kiew fällt der Schnee nun dichter. Oppositionspolitiker Arseni Jazenjuk ruft zur Blockade des Regierungsviertels auf. „Von heute an belagern wir das gesamte Viertel“, kündigt er an. Der Fraktionschef der Partei der inhaftierten Oppositionsführerin Julia Timoschenko wirkt müde. Zwei Wochen Dauerprotest schlauchen ganz offensichtlich.

Der 23-jährige Swjatoslaw ist aus Dnjepropetrowsk gekommen. „Alle müssen weg. Janukowitsch, Asarow und die Opposition, Timoschenko, würde ich am liebsten alle nach Sibirien schicken“, sagt der anarchistisch gestimmte Student.

Auf ihrem Marsch ins politische Machtzentrum kommen die Regierungsgegner aber nicht weit. Nachdem es hier bei Protesten vor einer Woche zu Ausschreitungen gekommen war, sind die Ministerien durch Polizeibusse und Einsatzkräfte doppelt abgesichert. Hinter den Absperrungen steht regungslos ein dichtes Spalier von Uniformierten, alle höchstens Anfang 20. Gegenüber die Reihen der Opposition.

Gespannte Ruhe herrscht auf einmal auf dieser verschneiten Straße der Millionenmetropole. Plötzlich springen junge Frauen hervor und verteilen Blumen an die Polizisten, um die Spannung zu brechen. Die Proteste gehen weiter, sagt Klitschko. „Wir werden friedlich siegen.“