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Mauer des Verdrängens und Verschweigens muss durchbrochen werden, sagt Markus Brauer.

Deutschland - ein Land der (Trieb-)täter? Angesichts immer neuer erschütternder Enthüllungen aus Internaten, Domsingschulen und kirchlichen Heimen könnte der Eindruck entstehen. Längst sind es ja nicht nur katholische Einrichtungen, in den Lehrer ihre Autoritäts- und Vertrauensposition ausgenutzt haben, um ihre perversen Vorlieben an ihren Schülern und Schülerinnen auszuleben. Was mit dem Canisius-Kolleg in Berlin, dem Vorzeige-Gymnasium der Jesuiten, als singulärer Blick in die Abgründe begann, setzt sich in einer Tour des Schreckens fort.

Eine Enthüllung jagt die nächste. Kaum ein Tag, in der nicht neue Vergehen von Heimleitern, Pädagogen und Priestern gegen die Würde und Integrität von Kindern und Jugendlichen bekannt werden. Viele Verantwortliche in Schulen, Kirchen und Ministerien reden immer noch von Einzelfällen. Dabei zeigt die Erfahrung, dass die Dunkelziffer ungleich höher ist als die aufgedeckten und bekannt gewordene Fälle. Die Sünden von Priestern und die Übergriffe der Pädagogen sind nur die Spitze eines Eisbergs. Das eigentliche Umfeld für den sexuellen Missbrauch ist die Familie.

Was an den jetzt bekannt werdenden Missbrauchsfällen so schockiert, ist, dass sie im öffentlichen Raum stattgefunden haben. Wie sicher müssen sich die Täter gefühlt haben? In der Tat: Eine übertriebene Solidarität und ein mönchischer Korpsgeist machte es in Klöstern wie Ettal fast unmöglich, über die schmutzigen Neigungen von Mitbrüdern zu reden. Privatschulen wie die Odenwaldschule sind, einmal genehmigt, der öffentlichen Kontrolle weitgehend entzogen. Was hinter den Internatsmauern geschieht, dringt allenfalls als Gerücht nach draußen, das man nicht wahrhaben will. Und doch ist es wahr.

Natürlich birgt gerade der enge Zirkel von Schülern und Lehrern Gefahren. Die Gewaltexzesse an der Regensburger Domsingschule oder der Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule wäre an einem staatlichen Gymnasium in Stuttgart oder Karlsruhe in diesem Ausmaß wohl nicht möglich gewesen. Die geschlossene Gesellschaft solcher Einrichtungen mit ihrer Heimlichtuerei, ihrem elitären Anspruch kann Nährboden für das Ausleben perverser Fantasien sein. Die politische Diskussion um Verjährungsfristen, Runde Tische, Entschädigungszahlungen für Opfer und kirchliche Verantwortung, die jetzt beginnt, ist überfällig.

Dabei geht es nicht nur darum, früheren Opfern Glauben zu schenken und zuzuhören, sondern vor allem auch künftiges Unheil von Mädchen und Jungen abzuwenden. Dass sexueller Missbrauch als pathologisches Faktum unausrottbar ist, ist leider eine Tatsache. Aber es muss von Seiten der Politik, der Kirchen, der Schulen alles getan werden, um die Gefahren für die Kinder zu minimieren. Mehr Vertrauenslehrer an den Schulen, längere strafrechtliche und zivilrechtliche Verjährungsfristen, Entschädigungszahlungen - die Diskussion läuft. Die Aufklärung dessen, was geschehen ist, steht derzeit im Mittelpunkt. Aber auch entschiedene Schritte zur Prävention sind notwendig, alles andere wäre eine Verhöhnung der Opfer.

Deutschland ist kein Volk von Missbrauchstätern. Wohl aber gibt es viel zu viele, die ungestraft Kinderseelen zerstören. Gerade deshalb ist es wichtig, möglichst viele Fälle ans Licht zu bringen. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch, hat am Freitag nach seinem Treffen mit Papst Benedikt XVI. in Rom zugesagt, alle Anstrengungen zu unternehmen, die Taten aufzuklären, den Opfern beizustehen und eine Wiederholung zu vermeiden. Nur so wird die Mauer des Schweigens und Verdrängens durchbrochen. Je mehr Übergriffe enthüllt werden, desto größer wird die Sensibilität für das Missbrauchsthema.