Christine Gess bestritt viele spannende Rennen. Foto: Eibner

Leichtathletik: Balinger 800-Meter-Spezialistin hängt die Laufschuhe an den Nagel. Nach acht Jahren ist Schluss.

Nach acht Jahren im Leistungssport ist Schluss. Die Balingerin Christine Gess, 800-Meter-Spezialistin bei der LG Stadtwerke München, setzt einen Punkt hinter ihre Karriere – und das nach ihrer zweitbesten Saison.

Ein Leben ohne Leichtathletik ist für Christine Gess undenkbar. Zehn Trainingseinheiten pro Woche sind für die 24-Jährige seit Jahren Normalität, die Bahnen ihre Komfortzone. Und doch hat die aus Balingen stammende 800-Meter-Spezialistin in den vergangenen Wochen eine Entscheidung gefällt, die sie, wie sie selbst sagt, "jede Menge Hirnschmalz und Kraft gekostet" hat: Sie verabschiedet sich aus dem Leistungssport.

Am Sonntag machte sie ihre Entscheidung öffentlich – und strahlt an diesem Dienstagmorgen, als sie ans Telefon geht und von ihrem Findungsprozess berichtet, eine tiefe Zufriedenheit aus. "Die Entscheidung kam aus dem Bauch heraus, aber das Gefühl hat sich über Wochen entwickelt", erklärt Gess. Zu Beginn der Überlegung habe sie nicht einmal gewusst, ob ihr Leben ohne Leistungssport funktioniert. Zahlreiche Gespräche mit ihren Trainern, ihrer besten Freundin, Teamkollegin und 800-Meter-Konkurrentin Christina Hering sowie ihrem Umfeld halfen.

Doch der Anstoß zu alldem kam nicht etwa, weil die Liebe zum Laufen verschwand. Christine Gess hat vor gut zwei Monaten ihren Bachelor in Internationalem Management abgeschlossen. Die Unternehmensberatung, für die sie bereits seit fast zwei Jahren als Werkstudentin tätig war, bot ihr eine Vollzeitstelle als Junior Beraterin an. "Das ist schon ein Ding, wenn man ›nur‹ einen Bachelor hat", sagt sie. "Ganz abgesehen davon, dass 40 Stunden Arbeit aufgrund der intensiven Lernphase eher das Minimum sein werden, werde ich auch viel unterwegs und auf Reisen sein."

"Ohne ihn wäre ich nicht da, wo ich bin"

Ihren Trainingsaufwand aufrechtzuerhalten wäre damit unmöglich und ihr Sport zum Ausschlusskriterium für den Job geworden. "Ich musste diesen Kompromiss eingehen. Auch, weil ich aus dem Olympischen Dorf ausziehen wollte und München bekanntlich ja ein teures Pflaster ist. Außerdem mache ich ab April per Fernstudium auch noch meinen Master."

Dass man gehen soll, wenn es am schönsten ist, trifft in Gess‘ Fall beinahe zu. "Das war meine zweitbeste Saison, und ich habe bewiesen, dass mit mir zu rechnen ist und ich in der deutschen Spitze mitlaufen kann", erklärt sie. Gess wurde Fünfte über 800 Meter bei der Deutschen Meisterschaft Ende Juli in Nürnberg und kam mit 2:05,28 Minuten nah an ihre Bestzeit heran. Außerdem feierte sie mit der 3x800 Meter Staffel die Deutsche Meisterschaft. Gemeinsam mit Katharina Trost und Mareen Kalis lief sie in 6:12,41 Minuten bayerischen Rekord. Mit 2:04,82 Minuten, die sie beim Meeting in Mannheim im Juni lief, lag Christine Gess auf Rang elf der deutschen Jahresbestenliste. "Ich war nach der Saison drei Wochen in Sri Lanka und hatte Zeit, mir darüber bewusst zu werden, was ich möchte – und kam zu dem Entschluss, dass der Zeitpunkt für den Absprung jetzt gut ist."

Mit dem Gefühl, eine weniger intensive Vorbereitung gehabt zu haben als in den Vorjahren, wollte die Balingerin nächstes Jahr nicht mehr auf der Bahn stehen. "Wer mich kennt, weiß, dass ich nur mit 100 Prozent oder mehr zufrieden sein kann", betont sie.

Das war schon immer so. Als sie, kurz bevor sie in die erste Klasse kam, mit der Leichtathletik begann, stellte sich ihr Talent – obwohl in diesem Alter alles noch spielerisch und disziplinenübergreifend läuft – schnell heraus. "Ein achtjähriges Kind kann normalerweise nicht so laufen, dass es auf der zweiten Runde noch Puste hat", sagt Gess – doch sie schien es im Blut zu haben. Mit zwölf wechselte sie aufgrund des Umzugs ihrer Familie vom TV Weilstetten zur TSG Balingen. "Tom Jessen, mein Trainer in Balingen, hatte vorher schon einmal mit meinem Vater darüber gesprochen, ob ich nicht zur TSG kommen will", berichtet sie. "Von da an habe ich pro Jahr ein Lauf-Training mehr gemacht und mich schnell gesteigert." Jessen, betont sie, habe sie geprägt. "Er hat für mich eine Ersatzvaterrolle, war immer für mich da und ist das auch heute noch. Wir tauschen uns viel aus, und wenn ich in Balingen bin, darf ich dort jederzeit mittrainieren", sagt Gess. "Ich habe sehr, sehr viel von ihm gelernt und bin ihm dankbar. Ohne ihn wäre ich heute nicht da, wo ich bin."

"Mir bleiben viele Freundschaften"

Und erreicht hat sie in den vergangenen Jahren so einiges. Sie war die erste Deutsche im Finale der U18-WM seit 20 Jahren, schnappte sich in Abwesenheit von Christina Hering 2013 den DM-Titel der U20. Bei der U23-DM schlug sie als U20-Athletin die gesamte ältere Konkurrenz.

"Ich hatte, als ich mit 19 nach München kam, aber auch zwei schwierige Jahre. Mir hat das Konzept gefallen, und ich bin damals nicht wegen der Stadt, sondern wegen der Trainingsgruppe nach München." Dort musste sie jedoch feststellen, dass ihr Körper genau dieses Konzept, dass sie so gereizt hatte, nicht verkraftet. "Ich kam mit einer chronisch entzündeten Plantarfaszie im Fuß nach München", erklärt sie. Die dadurch unbewusst entstandene Schonhaltung führte zum ersten Ermüdungsbruch im linken Schienbein. Im Jahr darauf folgte das gleiche Spiel noch einmal im rechten Bein.

Christine Gess hat sich aber trotzdem zurückgekämpft – und wird ihrem Sport auch jetzt, wo sie den Wettkampfgedanken zumindest ein Stück weit beiseitelegt, erhalten bleiben. "Es soll sich auf vier bis fünf Trainingseinheiten pro Woche einpendeln", sagt sie. "Ich kämpfe gerne gegen meinen inneren Schweinehund und werde zumindest Dienstagabend und Donnerstagvormittag weiter mit meiner Trainingsgruppe trainieren." Außerdem lerne sie ihre neuen Freiheiten und die Flexibilität gerade schätzen. "Ich kann wieder Dinge machen, die in den letzten Jahren aufgrund des Verletzungsrisikos nicht so gern gesehen wurden – zum Beispiel Ski und Snowboard fahren; und ich könnte mir vorstellen, eine Mannschaftssportart auszuprobieren." Christine Gess ist offen – und sie freut sich auf das, was kommt.

Zumal ihr so viel aus ihrer Läufer-Karriere bleibt: "Ich blicke mit Stolz auf die vergangenen acht Jahre. Natürlich gab es Freud und Leid, das liegt oft nah beieinander und gehört zum Leistungssport dazu. Aber die schönen Momente überwiegen ganz klar. Mir bleiben viele Freundschaften und ich bereue keinen Cent und keine Minute, die ich in meinen Sport investiert habe."