Im Campus Galli entsteht ein Kloster nach altem Vorbild mit 50 Gebäuden und allem, was dazugehört – vom Skriptorium über die Sakristei bis hin zum Brauhaus, einem Hospital und Gartenanlagen. Foto: Campus Galli

Ob Campus Galli, die karolingische Klosterstadt bei Meßkirch, oder Adventon im rauen Nordbaden bei Osterburken: Die Bewohner spüren dem Zauber des Mittelalters nach.

Das knöchellange Leinengewand von Dorothea Claßen flattert im Wind, als sie aus dem alten Gutshof kommt. „Der Kaffee läuft schon durch“, ruft sie den Gästen zu. In Adventon, einem historischen Dorf in der Nähe des nordbadischen Osterburken, wird das Mittelalter zelebriert. Kaffee gab es damals streng genommen noch nicht, auch keinen Elektrokocher. Doch ein paar Annehmlichkeiten der heutigen Zeit sind schon erlaubt. Die eigentliche Reise in die Vergangenheit vor mehr als 1000 Jahren beginnt ohnehin erst hinter den Ställen und Wirtschaftsräumen des ehemaligen Hofes.

 

Ein Verein hat das Gelände von den Fürsten zu Leiningen gepachtet, um hier das Mittelalter zu bauen, zu leben, zu feiern. 40 Aktive ziehen Kräuter, stellen nach alten Methoden Musikinstrumente her, schmieden Eisen und füllen die Gefache der Fachwerkhäuser mit einem Gemisch aus Lehm, Sand und fein geschnittenem Stroh. Ihr Motto: zurück in eine Epoche, in der die Menschen alles in Handarbeit produziert haben.

Einst verlief hier der Limes

Die Gegend rund um das Dorf ist einsam, ein Niemandsland zwischen Mannheim, Heilbronn und Würzburg. Da fällt es nicht schwer, die schnelle, laute Gegenwart auszublenden. Felder, Wiesen und vereinzelt Wälder bedecken die wellige Landschaft. Hier verliefen schon immer Grenzen: Früher der Limes, heute die Endhaltestelle der S-Bahn Rhein-Neckar in Osterburken. Und wenige Kilometer weiter beginnt das Living-History-Experiment: Seit 20 Jahren entstehen auf den Wiesen Lehm- und Holzhäuschen mit Schilf oder Schindeln gedeckten Dächern, die tief nach unten gezogen sind.

Dorothea Claßen in ihrer „Schneiderey“ Foto: Astrid Möslinger

Der Name „Adventon“ setzt sich aus Adventure und Town zusammen – Stadtabenteuer. Ursprünglich sollte ein urbanes Gebilde mit 250 Gebäuden errichtet werden. Ein unrealistischer Plan: Ohne finanzielle Hilfe und mit Leuten, die nur in ihrer Freizeit hier arbeiten können, war das nicht zu schaffen. Heute besteht das Dorf aus 30 Bauten, die unterschiedliche Phasen des Mittelalters repräsentieren. Die Vereinsmitglieder haben mehr Freiheiten als auf anderen mittelalterlichen Baustellen, etwa beim Burgenbau im französischen Guédelon, wo nur Techniken des 13. Jahrhunderts angewendet werden dürfen. Oder beim Klosterbau auf dem Campus Galli im oberschwäbischen Meßkirch.

Die meisten Siedler haben eine weite Anfahrt

Dorothea Claßen, die früher Hauswirtschaftslehrerin war, ist seit 2019 mit dabei. In ihrer „Schneiderey“ können sich die Besucher stilecht mit Gewändern aus schlichtem Leinen, aber auch aus königlichem Brokat einkleiden. Die Stoffe sind handgewebt und mit Krappwurzel, Zwiebel, Wallnussschalen oder Birkenblättern gefärbt. Claßen näht daraus mittelalterliche Mode mit Nadel und Faden, Stich für Stich. „Eine meditative Arbeit“, sagt die 58-Jährige. „Sobald man eine Routine hat, kann man das fließend machen. Früher als Lehrerin musste ich immer in Habachtstellung und angespannt sein.“

Eigentlich wohnt Claßen im schwäbischen Offenau, eine halbe Autostunde von hier entfernt. Die meisten anderen Siedler haben eine weite Anfahrt. Sogar Geschichtsliebhaber von der dänischen Grenze und aus der Steiermark haben sich hier ein Fleckchen Mittelalter gesichert. Der Vereinsvorsitzende Michael Meinl und sein Stellvertreter Markus Kunze haben ebenfalls eine längere Fahrt hinter sich. Meinl, ein IT-Spezialist aus Nürnberg, hält im Beruf Netzwerke am Laufen. „Ich arbeite eine Kabellänge vom nächsten Rechner entfernt“, sagt der 48-Jährige scherzhaft. In Adventon sind die Verbindungskabel imaginär und reichen in eine ferne Vergangenheit zurück.

Dass Meinl und Kunze etwas anders gepolt sind als die meisten, erkennt man, auch wenn sie keine historischen Kostüme tragen. Beide haben lange Bärte und Mähnen. Bei Meinl war es die Mutter, die seine Neugier für Geschichte weckte. „Sie hat mich schon früh durch Kirchen und Klöster geschleift. Davon ist nicht ganz das hängen geblieben, was sie wollte“, sagt er mit einem Lächeln. Denn er begeistert sich vor allem für das alte Handwerk und das Selbermachen. „Es hat Jahre gedauert, bis ich wusste, wie sich Lehm anfühlen muss, wie viel Haare und Pferdemist hineingehören, damit er haltbar ist.“

Schwierige Rückkehr in die Gegenwart

Markus Kunze, lang, dünn, Brille und Pferdeschwanz, kommt aus der Nähe von Aschaffenburg. „Wir haben in der Zeitung gelesen, dass hier eine Mittelalterstadt gebaut werden soll“, erzählt der 69-jährige Gärtnermeister. Seitdem ist viel passiert: Mit seiner Frau hat er sich ein Anwesen mit einer Vorratskammer, einem Kräutergarten und einer Werkstatt hingestellt. Dort schnitzt er Leiern und Luren. Wenn er mit seinen Fingern über die Saiten seiner selbst gebauten Leier streift, füllt ein melancholischer, beinahe sphärischer Klang den Raum. So müssen sich Konzerte um 800 angehört haben.

Markus Kunze mit selbst gebauter Leier Foto: Astrid Möslinger

Für Kunze stehen auch noch andere Werte im Vordergrund. „Nachts hörst du den Kauz oder eine Eule auf dem Dach landen. Manchmal grunzt es – und du überlegst, ob du die Tür zugemacht hast“, erzählt er. Die Rückkehr in die Gegenwart sei nicht immer ganz einfach, sagt Dorothea Claßen. Wenn sie mit ihrem Mann auf Mittelaltermärkten unterwegs ist, brauchen die beiden einen Tag, um wieder in den Alltag zurückzukommen. „Mein Mann ist Elektromeister und baut Solaranlagen, das ist etwas ganz anderes. Ich räume wieder die Spülmaschine aus und wasche die Wäsche in der Waschmaschine, die ich natürlich nicht missen möchte.“

Auf der Suche nach historischen Wahrheiten

Warum fasziniert das Mittelalter heute so viele Menschen? „Die Unmittelbarkeit jenseits von virtuellen Welten“, nennt Johanna Jebe, Historikern von der Uni Tübingen, als einen Grund. Die 39-Jährige gehört zum wissenschaftlichen Beirat des Campus Galli. Während in Adventon das Mittelalter zu einer persönlichen Erfahrung wird, gehen die Macher dort auf die Suche nach historischen Wahrheiten. „Jede Bauentscheidung, aber auch mentale Aspekte, wie die Frage, ob Reliquien verlegt werden dürfen, werden wissenschaftlich erörtert“, sagt Johanna Jebe. So ist dieses Projekt zusätzlich ein Gewinn für die Forschung.

Grundlage ist der St. Gallener Klosterplan aus dem neunten Jahrhundert. Es handelt sich um die älteste überlieferte Architekturzeichnung des Abendlandes und einen idealtypischen Plan, der nie realisiert wurde. Auf dem Campus Galli entsteht ein Kloster mit 50 Gebäuden und allem, was dazugehört – vom Skriptorium über die Sakristei bis hin zum Brauhaus, einem Hospital und Gartenanlagen. Das Echo ist groß: Jedes Jahr strömen 80 000 Besucher auf die mittelalterliche Baustelle. „Die Menschen sind an der Ruhe und der Reduktion fernab von modernen Medien interessiert“, sagt Sonja Fecht, die hier als Museumspädagogin arbeitet.

Mittelalterliche Dörfer bieten emotional einen Weg aus der komplexen, digitalen Welt. Doch die wenigsten Besucher haben ein realistisches Bild von dieser Zeit. „Es gibt teilweise eine romantisierte Vorstellung vom Ritterleben, obwohl es auf den Burgen kalt und zugig war und es keinen Strom gab“, sagt die Autorin Rebecca Michéle aus Kirchheim unter Teck. Sie hat schon mehrere Mittelalterromane veröffentlicht, in denen es um die einfachen Leute geht. „Mich fasziniert, wie sie bei all den Krankheiten ihr Leben gemeistert haben“, sagt die 62-Jährige.

Die Siedler in Adventon wollen nicht nur in fiktive Romanwelten eintauchen. Sie stürzen sich mit Haut und Haaren ins Mittelalter und seine Abenteuer. Im Oktober wird auf ihrem Gelände eine große Schlacht ausgetragen – selbstverständlich nur mit stumpfen Schwertern und Speeren. Dabei schlüpfen die Teilnehmer in die Rollen von historischen Kriegern. Vielleicht ist es auch ein Kampf zwischen dem modernen hektischen Leben und der Sehnsucht nach Einfachheit. Doch bis zum großen Ereignis herrscht noch Ruhe im Mittelalterdorf. Dorothea Claßen verabschiedet sich von den Besuchern mit dem alten Marktgruß „Gehabt Euch wohl“.