Bayrische Polizistinnen bei der Schießausbildung. In Baden-Württemberg werden ihre Kollegen in Ton und Bild aufgezeichnet, sobald sie den Schießstand betreten. Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand

Ohne ihr Wissen wurden Polizisten mindestens zwei Jahre lang in Ton und Bild aufgezeichnet. Das Innenministerium wusste Bescheid – und tat nichts. Auf der Leitungsebene will niemand über den Vorfall informiert worden sein.

Stuttgart - Mindestens zwei Jahre lang sind Polizistinnen und Polizisten in Baden-Württemberg in den Schießkinos der Landespolizei in Bild und Ton aufgezeichnet worden. In der Regel, ohne dass die Beamten wussten, dass ihre Gespräche mitgeschnitten und sie gefilmt wurden. Das berichtete unsere Zeitung in diesem Juni.

Das zuständige Innenministerium räumte jetzt auf eine parlamentarische Anfrage der FDP hin ein: Zwar wurde bei protokollierten Besprechungen der Einsatz- und Schießtrainer ab 2019 das Problem schon kurz nach dem Einbau der neuen Schießanlagen erkannt. Das zum Ministerium Thomas Strobls (CDU) gehörende Landespolizeipräsidium (LPP) war darüber auch informiert. Aber die Ministerialen reagierten erst nach der Berichterstattung. Und das, obwohl „an einigen Standorten die Aufzeichnungen wenige Wochen nach Inbetriebnahme vor dem Hintergrund einer noch fehlenden technischen Möglichkeit zur manuellen Abschaltung durch eine Veränderung des Aufnahmewinkels der Kamera bzw. durch Entfernen des Audio-Steckers an den Anlagen unterbunden“ wurden, heißt es lapidar in der Antwort.

Wörtliche Wiedergabe ist nicht wörtliche Wiedergabe

Es ist nicht das einzig Ungereimte, was das Innenressort dem Landtag schreibt. Die Einrichtungen werden seit 2018 eingebaut – ein Datenschutzkonzept bis heute nicht erstellt. Dabei war bereits am 4. Juni 2019 dem Ministerium, das außer fürs Innere auch für die Digitalisierung des Landes verantwortlich ist, bekannt, dass es ein Datenschutzproblem hat. Das geht aus dem Protokoll der Konferenz der Schießtrainer an diesem Tag hervor, das unserer Zeitung vorliegt. Danach regen die Trainer an, das Problem einheitlich im Land „seitens des Innenministeriums, LPP“ zu regeln. Obwohl die FDP in ihrer Anfrage eine „wörtliche Wiedergabe“ des Protokolls einfordert, verschweigt das Ministerium, dass bei der Besprechung die Referate 33, Personal- und Organisationsmanagement, sowie 35, Recht, Grundsatz und Europäische Angelegenheiten, klar benannt werden, um das Problem zu lösen.

Es stehe im Kontakt mit dem Landesdatenschutzbeauftragten, lobt sich das Ministerium derweil selbst. Dass das erst nach der Berichterstattung unserer Zeitung in diesem Juni geschah, verschweigen die Ministerialen ebenso wie den Umstand, dass erst seitdem Aushänge vor den Schießanlagen die Polizisten über die dauerhaften Aufzeichnungen informieren.

Auf der Führungsebene will niemand etwas gewusst haben

Und wissen damit mehr, als die Führungsspitze des Ministeriums. Es hatten, heißt es in dessen Antwort an das Parlament, „keine weiteren Stellen innerhalb des LPP oder der Leitungsebene des Innenministeriums Kenntnis über die Aufzeichnung von Schießübungen in Bild und Ton“. Informiert seien nur Sachbearbeiter gewesen. Stimmt diese Darstellung, wurden die Leitungen des LPP und des Ministeriums zwei Jahre lang nicht darüber informiert, dass es ein landesweites Datenschutzproblem gibt. Bei dem zudem der Verdacht im Raum steht, dass mit dem stetigen Lauschangriff Straftaten verübt werden.

Gundram Lottmann, Vize-Landevorsitzender der Gewerkschaft der Polizei und selbst Kriminaler, verweist dabei auf den Paragrafen 201 des Strafgesetzbuches, der die Vertraulichkeit des Wortes schützen soll. „Polizistinnen und Polizisten ohne ihr Wissen zu filmen und Tonaufnahmen von ihnen anzufertigen, passt nicht in die aktuell geführte Wertediskussion innerhalb der Polizei. Die Enttäuschung über diese Vorgehensweise ist bei meinen Kollegen groß.“

Rare Übungszeiten, großer Andrang

Dabei sollen die neuen Schießsystemen eigentlich nur die Bewegungsabläufe der übenden Polizisten aufzeichnen, damit die Trainer sie dann später mit besprechen können. Ein zeitaufwendiges Verfahren, dass kaum angewendet wird: die Übungszeiten sind rar, der Andrang auf die Anlagen groß – Polizisten müssen regelmäßig bestimmte Übungen schießen, um ihren Staus als Vollzugsbeamte zu erhalten. Bei Training und zusätzlich angesetzten Nachbesprechungen fehlen sie in ihren Dienststellen, zumal sie mitunter lange Anfahrtswege zu den Schießanlagen einkalkulieren müssen.

Trotzdem gehen die Ministerialen in Baden-Württembergs Innenressort davon aus, „dass im Einzelfall eine ausführliche Nachbesprechung und Analyse der Aufzeichnungen“ nicht unmittelbar nach dem Training, sondern später erfolgt und deshalb die Aufzeichnungen 72 Stunden lang gespeichert werden. „Als würden die Polizisten gerade aus abgelegenen Dienststellen noch einmal fast drei Stunden durch die Gegend fahren, um sich eine Videoanalyse ihres Trainings anzuschauen“, bezweifelt Lottmann. Das erklärt wohl auch, warum das Aufzeichnungsmodel kaum genutzt wird.

Immenser Vertrauensbruch, massiver Datenschutzverstoß

„Das Ministerium versucht, die Verantwortung auf nachgeordnete Mitarbeiter abzuwälzen, um von eigenen Versäumnissen abzulenken“, ist sich FDP-Frau Julia Goll sicher. Wenn weder die Protokolle noch weitergehende verpflichtende Berichte die Leitungsebene des LPP und Ministeriums erreichten, sei das ein Organisationsversagen der Hausspitze. „Wurden sämtliche Gespräche aufgezeichnet, ohne dass die Betroffenen das wussten, ist dies ein immenser Vertrauensbruch und ein massiver Datenschutzverstoß“.

Ihr Kollege Nico Weinmann ergänzt: „Flächendeckende Aufzeichnungen von Gesprächen sind keine Lappalie, sondern ein massiver Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen. Das Innenministerium nennt in seiner Antwort ans Parlament bezeichnenderweise auch keine Rechtsgrundlage für die Aufzeichnung.“