Vor ziemlich genau einem Jahr sah es noch so aus, als ob der bitterste Kelch am Kreis Calw vorübergeht. Damals wurde bekannt, dass die Öffnungszeiten der Notfallpraxen in den Kliniken in Calw und Nagold reduziert werden. Andere hatten weniger Glück und mussten schließen. Dieses Schicksal droht nun auch.
Ein Urteil des Bundessozialgerichts zur Sozialversicherungspflicht von sogenannten Poolärzten – beispielsweise Ärzte im Ruhestand – brachte 2023 alles ins Rollen.
Weil diese demnach im Notfalldienst nicht automatisch als selbstständig gelten und somit sozialversicherungspflichtig sind, entschied sich die Kassenärztliche Vereinigung (KV) für einen drastischen Schritt: Acht von 115 Notfallpraxen in Baden-Württemberg wurden ganz, sechs weitere teilweise geschlossen.
Auch Herrenberg und Neuenbürg betroffen
Der Kreis Calw kam mit einem blauen Auge davon; die Notfallpraxen in den Krankenhäusern in Calw und Nagold mussten lediglich samstags, sonntags und feiertags ihre Öffnungszeiten reduzieren.
Nun kommt es voraussichtlich deutlich härter. Wie der SWR am Freitag berichtete, plane die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) die Schließung von 17 weiteren Notfallpraxen – darunter auch jener in Calw. Zudem treffe es in der Region Herrenberg und Neuenbürg.
Überlastung droht
Grund dafür sei diesmal eine Anpassung der ärztlichen Bereitschaftsdienste an neue Kriterien. Demnach sollen die verbleibenden Notarztpraxen für 95 Prozent der Bevölkerung in 30 Minuten Fahrzeit erreichbar sein. Die restlichen fünf Prozent dürften bis zu 45 Minuten brauchen.
Vielerorts kocht nun wieder die Sorge um eine Überlastung der Notaufnahmen hoch. Nicht zuletzt die Landräte aus Böblingen und Calw, Roland Bernhard und Helmut Riegger, wollen das so nicht hinnehmen.
„Die geplante Neuordnung der ambulanten Notfallversorgung bedeutet in ihrer aktuellen Form eine gravierende Verschlechterung für die Menschen. Dafür muss es andere Lösungen geben“, erklären beiden Landräte in einer Pressemitteilung.
Bernhard, gleichzeitig auch Aufsichtsratsvorsitzender des Klinikverbund Südwest (KVSW), fordert die KVBW auf, hier andere Wege zu prüfen. „Die Notfallversorgung ist eine zentrale Aufgabe der Daseinsvorsorge. Es ist nicht akzeptabel, dass dieser Sicherstellungsauftrag der KV jetzt auf die Kliniken abgewälzt wird“, unterstreicht der Landrat.
Riegger beklagt die erheblichen Auswirkungen
Es brauche dringend eine andere Lösung, bei der ambulante und stationäre Versorgung enger verzahnt wird, um zumutbare Wege und eine gute Notfallversorgung bieten zu können.
Riegger, stellvertretender Vorsitzender des KVSW, beklagt die erheblichen Auswirkungen auf den Kreis Calw: „Gerade in einem ländlich geprägten Flächenlandkreis brauchen wir weiterhin zwei funktionierende Notfallstandorte. Damit eine umfassende ambulante sowie stationäre Versorgung sichergestellt bleibt“, so Landrat Riegger.
Hohe Verluste
Aber auch der KVSW sieht die Entwicklung kritisch. Die geplante Reform werde zu einer Überlastung der Notfallaufnahmen führen, so der Geschäftsführer des KVSW, Alexander Schmidtke. Und diese habe auch finanzielle Folgen.
„Die Schließung weiterer KV-Notfallpraxen wird zu einem deutlichen Anstieg der Patienten in unseren Notaufnahmen führen, die heute bereits über 160 000 Notfälle, mehr als 60 Prozent davon ambulant, pro Jahr versorgen.“
Die ambulante Notfallversorgung in deutschen Krankenhäusern sei massiv unterfinanziert. Das durchschnittliche Defizit pro ambulantem Behandlungsfall betrage laut einer Studie etwa 88 Euro. Allein für den KVSW bedeute das einen Verlust von knapp zehn Millionen Euro jährlich.
Appell verhallte offenbar ungehört
In den Landkreisen Böblingen und Calw betreibt die KV aktuell fünf Notfallpraxen, jeweils direkt in den Kliniken Sindelfingen-Böblingen, Calw, Nagold, Herrenberg und Leonberg.
Bereits vor rund einem Jahr, als die Öffnungszeiten eingeschränkt worden waren, hatten Bernhard, Riegger und Schmidtke vor einer Überlastung der Notfallstrukturen und an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) geschrieben. Der Appell verhallte offenbar ungehört.
Notfallpraxen
Notfallpraxen
dürfen nicht mit Rettungsdienst und Notaufnahmen verwechselt werden. Ein Sprecher der KV betonte gegenüber unserer Redaktion bereits vor geraumer Zeit, dass „Notfallpraxis“ eigentlich der falsche Begriff sei. „Echte Notfälle“ sollten den Rettungsdienst rufen, bei Notfallpraxen handele sich eher um einen ärztlichen Bereitschaftsdienst außerhalb regulärer Sprechstunden. Gibt es jedoch keine Notfallpraxen mehr, steuern Patienten eben doch häufig die Notaufnahmen an.