Die Ortenauer Kinderärzte sehen sich derzeit so vielen jungen Patienten gegenüber, wie nie zuvor. Schuld ist zum einen eine akute Infektionswelle, zum anderen wohl die Gesundheitspolitik der vergangenen Jahrzehnte. Foto: Klose

Eine Infektwelle bringt die Ortenauer Kinderärzte an ihre Grenzen. Junge Patienten müssten im Fünf-Minuten-Takt behandelt werden, berichtet der Lahrer Kinderarzt Christof Wettach. Er und seine Kollegen erleben derzeit einen "wilden Winter".

Ortenau - Die Lage in Ortenauer Kinderarztpraxen ist dramatisch: "Wir haben so viele kranke Kinder, wie noch nie", berichtet der Kinder- und Jugendmediziner Christof Wettach im Gespräch mit unserer Zeitung. Er betreibt mit zwei Kollegen eine Gemeinschaftspraxis in Lahr und spricht auch für die Kinder- und Jugendärzte im Ortenaukreis. "In allen Praxen ist es aktuell turbulent – wir haben ganz viele Infekte, teilweise fallen auch Kollegen aus", so Wettach. Atemwegsinfekte aber auch Darmgrippe-Viren machten die Runde.

Behandlung im Fünf-Minuten-Takt

Für Montag vergangene Woche verzeichnete Wettachs Gemeinschaftspraxis 275 Patientenkontakte. 167 Kinder hätten er und ein Kollege – der dritte im Bunde war krank – persönlich gesehen, 120 weitere seien per E-Mail behandelt worden. Die "leichten Fälle" versuche man mittlerweile online zu regeln, erklärt Wettach und betont: "Normalerweise haben wir im Winter an einem Montag ungefähr 60 bis 80 kranke Kinder."

Um die große Zahl kranker Kinder bewältigen zu können, haben er und seine Kollegen die "Taktung" angezogen: Drei Kinder pro Viertelstunde, "durchgehend von Morgens bis Abends" – mehr geht nicht. "Wir kriegen das nur gestemmt, indem wir andere Sachen liegen lassen", erläutert der Mediziner – etwa die Vorsorge-Untersuchungen. "Die müssen wir aber im Laufe des Winters nachholen." Akutkranke Patienten bekämen in seiner Praxis noch am selben Tag einen Termin.

Dem Immunsystem fehlt das Training

Ursachen für die aktuelle Situation sieht Wettach mehrere. So erkrankten derzeit einfach sehr viele junge Ortenauer. "Es gibt Kinder, die haben bereits den fünften Winter-Infekt", berichtet der Lahrer Kinderarzt. "Wieso so viele gleichzeitig erkranken, kann man nur vermuten. Es hängt wahrscheinlich mit den zwei Jahren Corona-Pandemie zusammen." Er geht davon aus, dass "mangelnde Übung" der Immunsysteme der Kinder die Ursachen dafür sind. Denn die Zahl der Infektionen sei seit März – seit dem die Maskenpflicht fiel – besonders hoch.

Darüber hinaus ist die Versorgung mit Kinderärzten in der Ortenau prekär: Im Kreis gab es Ende 2020 rund 75 000 Kinder und Jugendliche, davon 42 000 unter zehn Jahren, berichtet Wettach. Dem gegenüber stehen aktuell 28,5 Kinderarztsitze, insgesamt gibt es 15 kassenärztliche Praxen im Kreis. Rechnerisch kämen auf jeden Arzt also rund 2630 junge Patienten. Offiziell gilt der Kreis trotz dieses Missverhältnisses als "rechnerisch überversorgt".

Dabei muss Wettachs Praxis allein jeden Monat 70 Kinder abweisen, "weil wir keinen Platz haben", berichtet der Lahrer Kinderarzt. Und es könnte noch viel schlimmer Kommen: "Gut die Hälfte der Ortenauer Kinderärzte ist Mitte 50 und älter", so Wettach. Gehen diese nach und nach in den Ruhestand, wird sich die Situation nochmals verschärfen. "Grundsätzlich muss was passieren", konstatiert Wettach.

Mediziner sieht die Politik in der Pflicht

"Es ist Sache der Politik, der Bevölkerung zu erklären, wie sie sich die medizinische Versorgung der Zukunft für unsere Kinder und Enkel vorstellt. Dabei ist eines gewiss, so wie die Versorgung aktuell ist, kann und darf sie nicht bleiben", sagt der Lahrer Kinderarzt. Insofern sei es gut, wenn sich die Parteien dazu positionieren. Hilfreich für eine gut aufgestellte Versorgung wäre allerdings, dass die Parteien sich bei den niedergelassenen Kinder- und Jugendärzten informieren, bevor sie sich vorschnell auf Ideen festlegten, die womöglich unrealistisch seien, so Wettach.