Im Pflegeheim ist die 89-Jährige auf einen Rollator angewiesen, dennoch werden ihr sexuelle Übergriffe auf ihren Enkel zur Last gelegt. Foto: dpa

Das Marbacher Amtsgericht muss sich mit einem äußerst ungewöhnlichen Missbrauchsfall befassen. Wegen sexueller Übergriffe auf der Anklagebank sitzt eine Frau, die in wenigen Wochen ihren 90. Geburtstag feiert.

Das Marbacher Amtsgericht muss sich mit einem äußerst ungewöhnlichen Missbrauchsfall befassen. Wegen sexueller Übergriffe auf der Anklagebank sitzt eine Frau, die in wenigen Wochen ihren 90. Geburtstag feiert.

Marbach am Neckar - Wenn es um sexuelle Übergriffe auf Kinder geht, finden sich vor allem Männer auf der Anklagebank wieder. Zwar gehen Statistiker davon aus, dass ein Viertel der bundesweit jährlich annähernd 50.000 Straftaten in diesem Bereich von Frauen verübt wird. Doch aktenkundig werden die Missbrauchsfälle oft nicht.

Um so ungewöhnlicher ist ein Prozess, mit dem sich das Marbacher Amtsgericht jetzt befassen muss. Für den offenbar jahrelang andauernden Missbrauch eines Kinds muss sich dort eine Frau verantworten, die dem Alter ihrer sexuellen Blütezeit längst entwachsen scheint. Die inzwischen in einem Pflegeheim im Schwäbischen Wald lebende Seniorin ist nämlich fast 90 Jahre alt.

Seit mindestens neun Jahren soll sich die auf einen Rollator angewiesene Oma an dem inzwischen 17 Jahre alten Enkel vergangen haben. Laut Anklageschrift zwang sie den Buben zum Oralverkehr, manipulierte an seinem Geschlechtsteil, zog sich vor ihm aus und setzte sich wiederholt auf sein Gesicht. Mehrfach soll sie in der Marbacher Wohnung auch den Geschlechtsakt mit dem minderjährigen Familienmitglied vollzogen haben. „Das ist abartig, so was habe ich noch nie gehört“, nahm selbst Staatsanwalt Erich Müller kein Blatt vor den behördlichen Mund.

Kann Verhandlung auch im Pflegeheim stattfinden?

Ob die Vorwürfe aus der Luft gegriffen sind oder der Wahrheit entsprechen, konnte vor Gericht allerdings nicht geklärt werden. Die 89-Jährige erschien nicht im Sitzungssaal, sondern hatte sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert. Bei einem Anruf im Pflegeheim erfuhr Richterin Ursula Ziegler-Göller von der betagten Angeklagten, dass es für sie ausgeschlossen sei, den Seniorenhort schon morgens um fünf Uhr zu verlassen, um auch rechtzeitig in Marbach im Gerichtssaal zu erscheinen. Nach Auskunft der Heimärzte war die unter Bluthochdruck leidende Frau überdies nachweisbar krank.

Richterin, Staatsanwalt, zwei eigens aus Ulm und Weinsberg angereiste medizinische Gutachter, die Rechtsanwältin der Oma und die juristischen Vertreter der Familie verließen den Sitzungssaal deshalb unverrichteter Dinge. Auf die Möglichkeit, die betagte Dame per Haftbefehl von der Polizei zum Gericht bringen zu lassen, verzichtete die auch als Direktorin des Amtsgerichts tätige Juristin. „Das war mir angesichts ihres Alters zu riskant“, räumte Ursula Ziegler-Göller im Gespräch mit den Stuttgarter Nachrichten ein.

Jetzt soll ein medizinischer Gutachter bei einem Besuch bewerten, ob die Verhandlung auch im Pflegeheim stattfinden kann. Laut Harald Lustig, Sprecher der Heilbronner Staatsanwaltschaft, ist ein Ortswechsel nicht abwegig, allerdings höchst selten. „Die Dame will nicht erscheinen, weil es ihr peinlich ist“, klagte die Rechtsanwältin der Familie übers „unter den Tisch gekehrte Recht der Opfer“. Laut Richterin Ziegler-Göller hat die Oma die Missbrauchsvorwürfe bei der polizeilichen Vernehmung teils eingeräumt. Den Geschlechtsakt streitet sie ab.