Die Tänzerin Anne Jung war Teil der Performance. Foto: ak/ak

14 Künstler haben für das Projekt „Solid Transitions“ Tunnel und Rohbauhallen von Stuttgart 21 zum eindrucksvollen Ort gemacht.

Rund 500 Meter führt der Kunst-Parcours durch den Untergrund; vom Rohbau der Bahnhofshalle geht es durch staubige Betontunnel, bis der kleine Zuschauertrupp über eine steile Treppe vom monströsen Lüftungsschacht an der Neckarstraße wieder ausgespuckt wird. Dazwischen liegt die kurzweiligste Baustellenbegehung, die man sich denken kann.

 

„Solid Transitions“ heißt das Kunstprojekt, das am vergangenen Wochenende mit Künstlerinnen und Künstlern unterschiedlicher Disziplinen nicht nur die Mammutbaustelle unter Stuttgart, eine der größten innerstädtischen Baustellen Europas, an verschiedenen Stationen bespielt hat.

Den 14 daran beteiligten Sängerinnen und Tänzerinnen, Musikern und Choreografen, Sound- und Videokünstlern, Performerinnen und Bildhauern gelingt es zudem, in den unwirtlichen Tunneln und Hallen auch menschliche Hybris zu hinterfragen.

Zu wenig Zeit für Kunst

Das Kunstprojekt hat mit seinen mal sinnlichen, mal stacheligen Interventionen das Zeug zum Kultevent – doch leider nicht die Zeit dazu.

Nach nur neun Aufführungen macht der Zeitplan der Stuttgart-21-Baustelle schon wieder Schluss mit Kultur. Statt Kunst werden von dieser Woche an Gleise eingebaut.

Erik Sturm, einem bildenden Künstler, der sein Atelier in unmittelbarer Baustellen-Nähe hat, ist als Initiator von „Solid Transitions“ in jahrelanger Vorbereitung ein spannender Mix gelungen, um einen verborgenen Ort und das seit Jahrzehnten diskutierte Bahnprojekt aus neuer Perspektive erlebbar zu machen. Dazu gehört die Gesangsperformance von Angelika Luz und einer weiteren Sängerin, die mit menschlichen Stimmen die Dimension eines Tunnels erkunden, aber auch die Verlorenheit darin thematisieren. Ähnliches lässt die Malerin und Grafikerin Schirin Kretschmann empfinden, die mit einem Besen ein immer wieder von der 40-köpfigen Zuschauergruppe zertretenes Zickzackmuster in den Baustellenstaub fegt.

Das auf den Ort maßgeschneiderte Konzept des Parcours hat Erik Sturm mit dem Architekturbüro Cainelliklaska so entwickelt, dass sich die Beiträge überzeugend wie Teile eines Orchesters zum Ganzen fügen. Mit ins Boot holte er dafür zudem die Kuratorinnen Verena Jendrus und Carolin Wurzbacher, bei der auch die Projektleitung lag.

Wie eine Sirene in den Untergrund lockt

Er selbst hat an einer Stelle, an der sich der Tunnel zur Halle weitet, einen spiralförmig verbogenen T-Träger neben anderen Baustellenfundstücken platziert. Die Gewalt, mit welcher der Mensch in seine Umwelt eingreift, machen auch die von ihm gesammelten Nester deutlich, die Vögel aus Drähten, Schrauben und Kabeln im Untergrund bauen.

Die Tänzerin Anne Jung lockte das Publikum erst wie eine Sirene in den Untergrund, um später in einem verzweifelten, von Louis Stiens choreografierten Solo auf den zurückgelegten Weg zurückzublicken. Mechanisch beginnen ihre Bewegungen, um sich immer mehr in animalische Ausbrüche zu steigern. Diese Kluft, die zwischen den Dimensionen technischer Möglichkeiten und dem menschlichen Maß klafft, zeigen auch die Interventionen anderer Künstler eindrucksvoll, indem sie die Herausforderungen des ungewöhnlichen Orts aufgreifen. Da ist zum Beispiel der Ritter, den Valentin Henning in seinem Video „Body Builder“ zwischen den Kelchstützen der Bahnhofshalle herumirren lässt. Ein Königreich hätte einer seiner Zeitgenossen für ein Pferd gegeben; der in Stuttgart 21 verlorene Zeitreisende wäre vielleicht schon mit einem Schluck Wasser zufrieden. Oder da ist das einem riesigen Bohrkopf nachempfundene pneumatische Objekt des Künstlers Kestas, das mit seinen lustvoll-luftbewegten Armen keinem Steinchen etwas zuleide tun könnte.

Filigran in ihrer Vergänglichkeit, aber massiv in ihrem Geräuschpegel sind die elektrisch verstärkten Gitarrensalven, mit denen Stephan Stiens im letzten Raum das Publikum vor dem Aufstieg zurück an die Erdoberfläche verabschiedet – und zugleich den Titel des Kunstprojekts veranschaulicht: „Solid Transitions“ steht für das massive Material, das die Baustelle verarbeitet, und für die Flüchtigkeit des Reisens, das hier einmal stattfindet.

Flüchtig war auch die Kunst von „Solid Transitions“. Wer nicht dabei sein konnte, darf sich auf die geplante Videodokumentation freuen.