Die Konzeptkünstlerin Karin Sander arbeitet in ihren Ausstellungen ortsbezogen Foto: dpa/Thilo Rückeis

Was steckt hinter den „Office Works“? Und welche Rolle spielen Humor und Schönheit in Karin Sanders Werk? „Stuttgarter Nachrichten“-Titelautor Nikolai B. Forstbauer hat nachgefragt.

Stuttgart - Noch bis 4. Juli ist in der Kunsthalle Tübingen eine umfassende Ausstellung zum Werk der international bekannten Stuttgarter Konzeptkünstlerin Karin Sander zu sehen. Was steckt hinter den in Tübingen umfassend erlebbaren „Office Works“? Und welche Rolle spielen Humor und Schönheit in Sanders Werk? „Stuttgarter Nachrichten“-Titelautor Nikolai B. Forstbauer hat nachgefragt.

Frau Sander, die Ausstellung in der Kunsthalle Tübingen wird bestimmt von den „Office Works“. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Die Kunsthalle Tübingen erschien mir in vielerlei Hinsicht für meinen seit langem bestehenden Wunsch – diese Bürozeichnungen einmal allesamt zu zeigen – der geeignete Ort und für diese Ausstellung auch der richtige Zeitpunkt zu sein. Der Titel „Office Works“ verweist auf Prozesse und Materialien, die uns tagtäglich umgeben und die in jedem Büro vorkommen. Hinzu kommt, dass das Homeoffice im Zuge der Pandemie zu einem viel diskutierten Ort geworden ist und meine Arbeiten in der Ausstellung in Tübingen vor diesem Hintergrund nochmals eine weitere Lesart bekamen.

Zeitreise durch drei Jahrzehnte

Zu sehen sind 1473 von insgesamt über 1800 Werke von 1990 bis heute. Ist die Konzentration nur ein Schein, um in der Ausstellungsrealität das Gewicht der Retrospektive zu nehmen?

Es ging mir darum, die Blätter so vollständig wie möglich zusammen zu tragen und chronologisch auf den Wänden in der Kunsthalle anzuordnen, also keine wie auch immer begründete Auswahl zu treffen. Im Zusammenspiel von Anzahl, Themen und Zeiträumen verdichten sie sich und so macht die Inszenierung im Raum die daran beteiligten, vielschichtigen Prozesse sichtbar. Dabei entsteht ein für die Betrachter nachvollziehbarer Zusammenhang, eine Lesbarkeit, und ja, wenn man so will auch eine Zeitreise durch drei Jahrzehnte.

Die „Office Works“ verbinden sich in der Kunsthalle, verbünden sich – ja doch eigentlich zu Wall Pieces, mehr noch zu einem Raumklang. Ist und bleibt das ein Thema für Sie – die Schwere aufzuheben?

Es ist interessant, dass Sie von Klang sprechen. Wenn man diese Blätter in Gruppen oder in ihrer Gesamtheit sieht, ergeben sich Zyklen, Variationen und Partituren. Sie laden sich im Nebeneinander gegenseitig auf und werden zu einem orchestralen Ganzen. Ich wurde schon öfter darauf angesprochen, ob bei dieser Inszenierung im Raum eine Art Partitur lesbar wird. Ja, vielleicht sollte man diese vielen Blätter tatsächlich mal transkribieren und als mehrstimmiges Musikstück aufführen.

In meiner Frage verwende ich das Wort Raumklang. Erzeugt wird er durch eine Vielstimmigkeit gleichberechtigter Äußerungen. Haben Sie bewusst einen zutiefst demokratischen Ort geschaffen?

1972 hörte ich ein Musikstück von Dieter Schnebel im Radio. Es war für sieben verschiedene, aber gleichartige Instrumente geschrieben. Das hat mich damals sehr beeindruckt und ich schrieb an den Rundfunk in höchsten Tönen und bat um eine Aufzeichnung, die es nicht gab, wie es in der Antwort hieß. Aber man bedanke sich für mein positives Feedback, das einzige, das neben Stapel von Kritik und Beschimpfung beim Rundfunk eingegangen war. Dies nur nebenbei. Interessant aber ist, die Gleichartigkeit und damit die Gleichberechtigung der verschiedenen Instrumente und ja, so könnte man die Inszenierung in Tübingen verstehen: eine Vielstimmigkeit gleichberechtigter Äußerungen in acht unterschiedlich großen Räumen.

Offenlegen von Prozessen

Warum verzichten Sie in Tübingen auf die bei anderen Ausstellungen geübte Praxis, das Publikum über von Ihnen ausgelöste Eigenaktivität zu direkt Beteiligten zu machen?

Mich interessiert bei der Realisierung einer Ausstellung weniger das Eingeübte, sondern eher das Ungewisse, das Aufspüren von Hintergründen, von Systemen und Verhaltensformen. Mein Vorgehen rückt die Architektur und die Institution ins Blickfeld und ich versuche die Ausstellung immer wieder neu, jenseits der bisherigen Denkpfade zu entwickeln, nicht als Spektakel, sondern mit Spannung, Sichtbarkeit, Suspence. Das Offenlegen von Prozessen, von gesellschaftlichen und sozialen Konventionen interessiert mich. Auf der 15 Meter langen Tribüne im großen zentralen Ausstellungsraum beispielsweise, wenn die Besucher*innen den QR Code auf der Wand gescannt haben und hörend auf den hellen Metallbänken Platz nehmen, werden sie zu beteiligten Akteur*innen, werden Teil einer sich ständig verändernden Inszenierung. Das heißt also auch in Tübingen sind delegierte Prozesse, Erwartungen, Partizipation, Fiktion und Projektion Bestandteil der Ausstellung. Und dabei geht es mir letztendlich immer um das Neuprogrammieren existierender Systeme. Natürlich, ich kann auch die fahrbare Leiter nutzen. Als Ausguck, als Möglichkeit, auch „oben“ ganz nah an den Zeichnungen zu sein, als Überblick, als Weitblick.

Wie viel Freude am Spiel steckt denn zugleich in diesem Angebot?

Die Besucher*innen entscheiden wie sie sich den Arbeiten nähern, wie viel Zeit sie sich nehmen und vor allem wie und aus welcher Perspektive sie die Ausstellung betrachten, aber auch wie sie selbst wiederum von Besucher*innen gesehen werden wollen. Der Ausstellungsbesuch, die Erwartung wird wie zurückgespiegelt, die Situation bleibt offen und nachvollziehbar.

Man kennt von ihren Rollenwechsel, Rollentausch, Neudefinitionen von Orten und Verhältnissen. Ist Kunst in diesem Sinn ohne Spiel überhaupt denkbar?

Meinen Sie Spiel im Sinne von Präzision, Einsatz und Spannung? Ja, beim Tischtennisspiel versuche ich genau das. Rollenwechsel, Rollentausch oder die Neudefinition von Funktionen sind sicher Themen, die in Bezug auf die mobile Zuschauertribüne und die choreografische Inszenierung der Ausstellung aufgerufen werden können. Bei Spiel denke ich an die Fußballrasenstücke, die hoch an der Wand hängend dem Spiel entrissen sind und jetzt durch ihre Grenzlinien, anderen Regeln.

Und gibt es auch Grenzen? Oder anders: Das Erleben Ihres Spiels ist ja überhaupt erst durch höchste Präzision möglich. Initiiert also erst die genaue und beachtete Regel das Spiel?

Nein, weil ich die Regeln ja immer wieder selbst bestimme und sie dann auch immer wieder außer Kraft setze.

Mein Studio ist überall

„Die Stadt ist mein Studio“ ist in der Ausstellung zu lesen. Ein 3-D-Scan Ihres Studios aber zeigt denn doch einen eigenen Raum. Wie wichtig ist Ihnen dieser Dialog zwischen „Draußen“ und „Drinnen“ – und was nehmen Sie von dem reflektierten „Draußen“ vor allem mit in das „Drinnen“, das ja schon durch den Begriff „Studio“ eigenen Prägungen folgt?

„Die Stadt ist mein Studio“ ist ein Zitat meines Studionachbars – eines Landschaftsarchitekten – und ist Teil des Super-Rom-Komplexes, eine Arbeit, die in der Villa Massimo in Zusammenarbeit mit Andreas Uebele entstanden ist, der dort zur gleichen Zeit Stipendiat war. Bei mir ist das anders: Mein Studio ist überall, ich arbeite ambulant, wo immer ich mich gerade aufhalte, am Schreibtisch wie die Ausstellung zeigt, oder an einem Gebäude in Linz wie zum Beispiel der Transzendenzaufzug oder die Arbeiten entstehen autonom oder autopoietisch, in Gärten, an Hausfassaden, wie beispielsweise am Haus am Waldsee in Berlin.

Das Studio, Ihre Studios, ist, sind die Orte der „Office Works“. Schreibtischutensilien wurden und werden Arbeitsmaterial. Die Heftklammer ist von Beginn an ein zentrales Element. Warum das? Heftklammern formieren sich, verbinden sich zu Linien, tänzeln. Was bedeutet Ihnen Bewegung?

Hier nütze ich nun einen Auszug aus einem Gespräch mit Kunsthallendirektorin Nicole Fritz: „Mit Büromaterialien wie beispielsweise Heftklammern oder Büroklammern zu arbeiten erschien mir naheliegend, insbesondere weil sich so auf einfachste Weise die Frage stellen lässt: Was ist das für ein Ort? Welche Vorstellungen sind mit ihm verbunden? Welche Versprechen löst dieser Ort ein? Man könnte zum Beispiel auf die Idee kommen, dass ich als Künstlerin nie im Büro sitzen würde, oder besser noch: als sei das Künstlersein mit dem Versprechen verbunden, niemals in einem Büro zu landen. Der künstlerische Schreibtisch ist ein Ort konzentrierten Arbeitens, an dem Konzepte gemacht und verwaltet werden. Wo wäre ich, könnte ich meine Gedanken nicht ab und zu mit einer Heftklammer ordnen. Metallene Heftklammern oder auch Büroklammern sind sehr feine Drahtgebilde, die als dreidimensionale Linien auf dem Papier sitzen, es durchstoßen und dabei Dinge fixieren. Es sind aber auch Papierstücke, Klebebänder, Wischtücher, Schnipsel, die ihre speziellen Eigenschaften oder, wenn man so will, ihren Eigensinn am Arbeitsplatz demonstrieren und auf je spezifische Weise einen Vorgang, eine bestimmte Zeit und Funktion repräsentieren.“

Der Tanz, die immer wieder neu gestartete Entwicklung, findet auf einer klar definierten Bühne statt: DIN A 4-Papier. Damit rückt das Serielle in den Blick – nur, um durch das „Bespielen“ der formal immer gleichen Bühne eine Dauer-Hommage an die Differenz zu starten. Wie viel Kraft steckt für Sie im Moment des Verschiebens?

Es handelt sich um gewöhnliche Schreibpapiere, Office Papers, und hier sind die Formate kulturbedingt DIN A 4 oder US Letter Formate, je nach dem wo ich gerade bin.

Zu sehen sind in der Kunsthalle auch großformatige Gebrauchsbilder, zu hören ist ein Text von John Waters, empfangen werden wir – fast eine Art Zaungast – von einem plastischen Wassertropfen. Ist Kunst ohne Humor für Sie überhaupt denkbar?

An der Kantes des Eingangstresens hat dieser erstarrte Glastropfen eine einladende Selbstverständlichkeit. Er ist wie ein Auftakt zur Ausstellung und die großformatigen Gebrauchsbilder im letzten Raum ganz oben bilden den Höhepunkt der Ausstellung – physisch, metaphorisch und choreographisch.

Die große Halle empfiehlt sich mit einer langen Tribüne als Ort des buchstäblichen, weil auf ausliegende Kataloge und Bücher gestützten Weiter-Schauens. Hat Kunst für Sie mit Bildung zu tun?

Es freut mich, wenn die Leute in der Ausstellung sich in die Bücher und Kataloge vertiefen, lesen und hören, dann funktioniert die Arbeit, dann funktioniert die Ausstellung.

Die Wandstücke bleiben immer sichtbar

Auf Wall-Pieces verzichten Sie in Tübingen. Zumindest auf den ersten Blick. Sind Sie aber nicht doch da? Aus dem Zusammenklang, foliengeschützter beziehungsweise gerahmter Arbeiten ergibt sich doch immer wieder eine eigene Linie, die sich zwischen den Rahmen entwickelt. Bilder, die erst im Aufbau entstanden sind. War das geplant? Ist das Zufall?

Genau so, die Wandstücke, wenn man sie einmal gesehen hat, werden in der Vorstellung immer wieder aufgerufen, auch wenn sie nicht da oder überstrichen sind, sie bleiben immer sichtbar. Die Inszenierungen auf den Blättern erzählen dann aber eine ganz eigene Geschichte.

Stichwort Zufall: In Ihrem Werk ist der (provozierte) Zufall eine wichtige Stimme. Warum eigentlich?

Die Kitchen Pieces, das frische Gemüse, das so an die Wand genagelt wird, wie es gewachsen ist, verändert ohne mein Eingreifen seinen Zustand während der Ausstellung, es verwelkt oder vergeht, seine Poesie reicht jedoch weit über das Verfallsdatum hinaus.

Zuletzt, so scheint es mir immer wieder, haben Sie auch vor einem anderen Schwergewicht keine Furcht: Schönheit. In den „Office Works“ reichen farbige Konfetti-Punkte und kleine Plastik-Blumen, um für einen eigenen Zauber zu sorgen. Verblüfft Sie das mitunter selbst?

Ja.

All das verdichtet sich im Begleitbuch zur Ausstellung in merkwürdiger Umkehrung. Obwohl es doch fast durchweg um Zeichnungen im weiteren Sinn geht, hat das Begleitbuch skulpturale Qualitäten. Ist es noch ein Katalog oder schon ein Werk?

Es gibt zwei Publikationen: ein Begleitheft DIN A 6 mit 28 Seiten, in dem alle in Tübingen gezeigten Werke beschrieben sind. Der Katalog der Office Works ist ein ungefähr sechs Zentimeter dickes Buch, 25 mal 34 Zentimeter groß und eine Dokumentation von allen 1800 Blättern auf über 700 Seiten, mit ca. 350 1:1 Abbildungen. Beide Bücher sind in Zusammenarbeit mit Andreas Uebele entstanden, mit dem ich fast alle meine Bücher mache. In diesem Sinn ist es ein Gemeinschafts-„Werk“.

Termine und Preise

Am 1. Juli um 18 Uhr spricht Kunsthallen-Direktorin Nicole Fritz mit Karin Sander über das Werk der Künstlerin und die in der Kunsthalle präsentierten Arbeiten. Am 3. Juli lädt Karin Sander zur Künstlerinnenführung. Beginn ist um 16 Uhr. Die Ausstellung von Karin Sander ist noch bis Sonntag, 4. Juli, zu sehen. Der Eintritt kostet 10 Euro, ermäßigt 8 Euro. Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre freier Eintritt. Die Zeiten: Donnerstag 11 bis 19, Freitag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr.