Die Grenzregion zwischen Luxemburg und Frankreich rund um Esch-sur-Alzette ist EU-Kulturhauptstadt 2022. Lange interessierte sich niemand für die Industriegeschichte dort. Jetzt lebt sie wieder auf.
Esch-sur-Alzette - Eine leere Flasche Bier: Viel mehr ist von Luxemburgs mächtiger Stahlindustrie nicht übrig. Die Flasche liegt in einer Eisenerzlore im Freilichtmuseum Fond-de-Gras, achtlos entsorgt und vergessen, genau wie die Geschichte der Region. „Unsere Industriekultur hat lange niemanden interessiert“, sagt Frédéric Humbel, der Direktor des Museums. „Die meisten Menschen denken bei Luxemburg an die Finanzbranche. Dabei waren wir sehr lange eine Industrieregion, genau wie das Ruhrgebiet.“ In Fond-de-Gras ist die Historie lebendig. Zwar wurden die 20 Stollen schon in den 1960er Jahren dichtgemacht, das Arbeiterdorf kann man aber bis heute besichtigen, mit Stromgeneratoren, Tante-Emma-Laden und einem funktionsfähigen Bahnhof.
Wandel vom Bergbau-Moloch zum Kultur- und Wissensstandort
Im Sommer hält hier der „Train 1900“, eine Dampflok, mit der früher Eisenerz abtransportiert wurde. Heute kümmern sich Ehrenamtliche um die Lokomotive. Befördert wird nun eine andere, aber nicht weniger wertvolle Fracht: Touristen. Das Freilichtmuseum ist Teil von „Esch2022“, der Grenzregion zwischen Luxemburg und Frankreich, die die EU zur Kulturhauptstadt 2022 gekürt hat. „Esch“, benannt nach der zweitgrößten luxemburgischen Stadt Esch-sur-Alzette, will den Wandel vom Bergbau-Moloch zum Kultur- und Wissensstandort feiern. Alte Hochöfen, Stahlfabriken und Eisenerzminen sollen durch Konzerte, Ausstellungen und Tanz neu belebt werden.
19 Gemeinden auf luxemburgischer und französischer Seite haben für das Kulturjahr ein Programm aufgelegt. Sie wollen die Vielfalt und den Wandel feiern. So bauen Mitarbeiter des Freilichtmuseums einen alten Zugwaggon in ein Feriendomizil um, das zum Programmstart im Frühjahr fertig sein soll.
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Bis dahin hat Museumsdirektor Humbel noch viel zu tun. Als Kunsthistoriker arbeitet er seit 13 Jahren daran, Fond-de-Gras möglichst realistisch aufzubauen. Doch viele Informationen fehlen ihm bis heute. „Wir wissen nicht genau, wie viele Menschen hier gearbeitet haben“, sagt er. Als die Bergwerke zumachten, habe man so ziemlich alles in die verbliebenen Hochöfen geworfen: Werkzeuge, Maschinen, Personalakten. Deshalb gönnt sich Humbel eine gewisse historische Freiheit: Der Krämerladen, der neben dem historischen Bahnhof aufgebaut wurde, stand eigentlich im Nachbardorf.
Zum Abbau von Eisenerz wurde ein ganzer Berg weggesprengt
Die Region lässt sich gut zu Fuß erkunden. Ein neuer Wanderweg verbindet alle luxemburgischen Gemeinden, die am Kulturjahr teilnehmen. Im Zentrum liegt das Naturschutzgebiet Ellergronn. Ein paar Vögel zwitschern in den Bäumen, zwei Joggerinnen bringen mit ihren Laufschuhen den Schotterweg zum Knirschen. Ansonsten: Gras, viel Gras. Ein Teil des Tals existiert nur deshalb, weil der ehemalige Berg weggesprengt wurde – zum Abbau von Eisenerz, was sonst. Schon bald sollen Urlauberinnen und Urlauber in kleinen Hütten entlang der Wanderwege übernachten, auch dies ein Projekt von „Esch2022“. Die Bauarbeiten laufen noch.
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Ein paar Meter weiter taucht ein Bergwerk auf, die 1967 geschlossene Cockerill-Mine. Der Eingang ist mit einem Gitter gesichert, Zutritt verboten. „Wir haben hier 1500 Kilometer Stollen“, sagt Paul Ennesch, der Kassierer des dazugehörigen Museums. „Wenn wir wollten, könnten wir unterirdisch bis Nancy gehen. Aber die Einsturzgefahr ist viel zu groß. Außerdem wohnen Fledermäuse in den Stollen. Die wollen wir nicht stören.“ Wer in ein altes Bergwerk einfahren möchte, muss ins Freilichtmuseum Fond-de-Gras. Es ist einer der wenigen Orte in Luxemburg, wo Züge in unterirdische Tunnelsysteme fahren.
Stahl, Beton und neu gestaltete Wasserspiele
So richtig greifbar wird der Strukturwandel erst in Esch selbst. Schon von Weitem ragen die Hochöfen in den Himmel, umringt von Einkaufszentren, Bibliotheken und einer großen Messe- und Konzerthalle. Seit Anfang der 2000er Jahre läuft der Umbau des ehemaligen Industriestandorts zu einem Wohn-, Einkaufs- und Universitätsviertel. Schon jetzt sind über eine Milliarde Euro in das Projekt geflossen; fertig ist es noch nicht.
Ein Spaziergang zwischen den alten und neuen Gebäuden lohnt sich. Überall Stahl, Beton und neu gestaltete Wasserspiele. Dazwischen Studierende, die sich mit einem Kaffeebecher auf einer Bank niedergelassen haben. In der Ferne steigt Rauch zwischen den Industriegerippen auf: Eine Fabrik arbeitet noch, wenngleich sie keinen Stahl mehr produziert, sondern nur noch recycelt. Die meisten Einwohner arbeiten heute im boomenden Bausektor und in der öffentlichen Verwaltung.
Am 27. Februar 2022 geht es los
In Esch schauen die Organisatoren des Kulturjahres derweil in die Zukunft. Rund 160 Projekte und Veranstaltungen sind in der Grenzregion geplant. Den Auftakt macht ab dem 27. Februar die Ausstellung „Hacking Identity – Dancing Diversity“ des Zentrums für Kunst und Medien Karlsruhe (ZKM). Dabei soll es um die Vielfalt Europas und multiple Identitäten gehen, örtlich eingebunden in die alte Stahlkonstruktion. Im Freilichtmuseum Fond-de-Gras steht das finale Programm noch nicht fest. Einen Wunsch hegt Frédéric Humbel: „Ich hoffe, dass viele Zeitzeugen kommen, die in den Bergwerken und Stahlhütten gearbeitet haben“, sagt der Kunsthistoriker. Kürzlich sei ein 85-jähriger ehemaliger Messtechniker vorbeigekommen, um sein Wissen an die jüngere Generation weiterzugeben. Für Humbel war das mehr wert als jeder Kulturtitel.
Info
Anreise
Mit dem Zug geht es direkt bis zum Bahnhof Esch-sur-Alzette, von Deutschland aus mit Umstieg in Gare de Luxembourg, Infos: www.bahn.de.
Unterkunft
Das Ibis Esch Belval liegt bei der „Rockhal“, DZ ab 71 Euro, www.all.accor.com.Günstig, aber stylish: Das Youth Hostel Esch liegt direkt am Bahnhof. Moderne Zimmer, bunte Kubus-Architektur, ab 29,90 Euro pro Person im Mehrbettzimmer. https://youthhostels.lu/de/jugendherbergen/jugendherberge-esch Bei Airbnb starten Ferienwohnungen bei 60 Euro, www.airbnb.de.
Aktivitäten
Das Museum der Cockerill-Mine in Esch-sur-Alzette hat montags bis freitags von 8 bis 12 Uhr und von 13 bis 17 Uhr geöffnet, am Wochenende von 8 bis 12 Uhr, Eintritt frei, www.minetttour.lu Die Dampfzüge im Freilichtmuseum Fond-de-Gras fahren im Winter nicht. Führungen über das Gelände können aber individuell gebucht werden, Pauschalpreis 60 Euro für maximal 11 Personen, www.minettpark.lu
Kulturhauptstädte
Esch-sur-Alzette teilt sich den Titel „EU-Kulturhauptstadt 2022“ mit den Städten Kaunas (Litauen) und Novi Sad (Serbien). Infos: https://esch2022.lu, www.kaunas2022.eu und https://novisad2022.rs/en/home-3/ Allgemeine Informationen
www.visitluxembourg.com/de