Die Regierung erwägt, den Pflegegrad 1 abzuschaffen. Die Leiterin der Lahrer Nachbarschaftshilfe warnt vor drastischen Konsequenzen für Betroffene.
Hintergrund der Überlegungen zur Streichung der Hilfe ist, dass die Pflegeversicherung im Minus steckt. Für 2026 wird das Defizit auf rund zwei Milliarden Euro geschätzt. Laut Berechnungen kosten die Leistungen für Pflegegrad 1 etwa diesen Betrag.
Aber die Folgen wären weitreichend, sollte er wegfallen: Menschen mit nur geringem Unterstützungs- und Pflegebedarf müssten die Hilfe künftig vollständig selbst bezahlen. Dabei wurde der Pflegegrad 1 erst 2017 eingeführt, um unter anderem Erkrankte mit Demenz im Frühstadium besser zu unterstützen. Diese sind oft körperlich fit, brauchen aber im Alltag Hilfe.
Zuvor sei das Begutachtungsinstrument stark auf körperliche Einschränkungen fokussiert gewesen, wie Rüdiger Straub, Pressesprecher des Medizinischen Dienstes Baden-Württemberg mit Sitz in Lahr, auf Nachfrage mitteilt.
Mit der Reform 2017 sei diese Lücke geschlossen worden: Seitdem würden körperliche, geistige und seelische Einschränkungen in den Bereichen Mobilität, Denken und Sprechen, Verhalten und psychische Probleme, Selbstversorgung, Umgang mit Krankheit oder Therapie und Alltag sowie soziale Kontakte genau angeschaut, erklärt Straub.
„Der Pflegegrad 1 ist vor allem ein niedrigschwelliger Einstieg in die Unterstützung“, so Straub. 131 Euro monatlich zahlt die Pflegekasse allen Berechtigten monatlich. Fällt diese Unterstützung weg, gibt es keinerlei Zuschüsse mehr. Dabei sind die Zahlen enorm: Bundesweit waren Ende 2024 den Angaben zufolge rund 863 000 Menschen in Pflegegrad 1 eingestuft. Wie viele Menschen in Lahr und Umgebung in Pflegegrad 1 sind, kann Straub nicht benennen (siehe Infokasten).
Klar ist: Die Unterstützung ist weit verbreitet. Fällt sie weg, trifft das einen bedeutenden Teil der Bevölkerung, der auf sie angewiesen ist. Für Judith Scheck, Leiterin der Lahrer Nachbarschaftshilfe, ist das ein Schreckensszenario: „Von unseren 340 betreuten Menschen sind etwa ein Drittel im Pflegegrad 1 eingruppiert“, erklärt sie. Wie viele von ihnen ihre Unterstützung bei einer Streichung nicht mehr finanzieren könnten, lasse sich schwer sagen, so Scheck im Gespräch. Klar sei aber , dass diese Einsparungsvorschläge extrem kurzfristig gedacht seien.
Der Pflegegrad 1 soll Menschen helfen, ihren Alltag zu bewältigen
Langfristig entstünden höhere Kosten, wenn Betroffenen die Möglichkeit genommen werde, mit etwas Hilfe weiter am geregelten Leben teilzunehmen. Denn die 131 Euro, die es gibt, entsprechen etwa acht Stunden Unterstützung im Monat. Eine Helferstunde kostet bei der Nachbarschaftshilfe 15,60 Euro. Mit diesem Budget können die Menschen einkaufen, zum Arzt oder zum Friseur begleitet werden oder Hilfe im Haushalt erhalten. Für viele sei das die entscheidende Grundlage, um selbstbestimmt leben zu können, betont Scheck.
Die möglichen Folgen der Regierungspläne, die Mittel zu kürzen, bekommen die Mitarbeiter der Lahrer bereits zu spüren: „Wir bekommen Anrufe von verunsicherten Menschen, die Angst haben, ihre wichtige Unterstützung zu verlieren, mit der sie selbständig zu Hause leben können“, so Scheck.
Auch für die Einrichtung selbst wären die Auswirkungen groß: „Im Grunde wären dann ein Drittel unserer Einnahmen fraglich, weil die Finanzierung dann nicht geklärt ist.“ Die Leiterin befürchtet, dass im Falle einer Streichung viele Menschen von heute auf morgen einfach wegbleiben könnten.
Im Gespräch mit der Redaktion wird Schecks persönliche Betroffenheit spürbar: „Das ist für mich hoch emotional. Wir erleben die Belastung jeden Tag. Es ist ein weiterer Versuch, das ohnehin schon ausgehöhlte Sozialsystem anzugreifen. Und gespart wird – wie immer – ganz unten.“
Ein Gutachten entscheidet
Von Januar bis August 2025 erstellte der Medizinische Dienst in Baden-Württemberg laut Pressesprecher Rüdiger Straubrund 240 000 Gutachten. Etwa 43 000 Menschen erhielten Pflegegrad 1, rund 72 000 wurden in Pflegegrad 2 eingestuft. Anhand der Gutachten entscheidet letztlich die Pflegekasse über den Pflegegrad.