Der Nato-Oberkommandierende Philip Breedlove nennt die Lage an der ukrainisch-russischen Grenze „unglaublich besorgniserregend“. Foto: Max Kovalenko

Kremlchef Wladimir Putin hat an die Kernaufgabe der Nato erinnert: die Sicherheits­garantie für jedes Mitgliedsland. Darauf muss sich das Bündnis nun auch im Osten militärisch einstellen.

Stuttgart/Brüssel - Ein greller Blitz, ein Feuerball. Danach steigt dichter schwarzer Qualm in den grau verhangenen polnischen Winterhimmel. Erst Sekunden später ist der ohrenbetäubende Knall der Explosion zu hören. Leopard-Zwei-Kampfpanzer der polnischen Armee pflügen, begleitet von rumänischen Schützenpanzern, durchs Truppenübungsgelände im westpommerschen Drwasko Pomorskie rund 100 Kilometer östlich von Stettin.

Mit 6000 Nato-Soldaten in Polen und zeitgleich auch in den baltischen Staaten Litauen, Estland und Lettland war das vom deutschen Vier-Sterne-General Hans-Lothar Domröse kommandierte Manöver „Steadfast Jazz“ Ende 2013 das größte Manöver des westlichen Bündnisses seit Jahren. Und das erste seit 20 Jahren, bei dem in einer Auseinandersetzung mit einer gut ausgerüsteten gegnerischen Armee der Bündnisfall nach Artikel 5 des Nato-Vertrags geübt wurde: Wird einer der 28 Verbündeten angegriffen, sehen dies alle als Angriff auf sich selbst an.

Das Krisenszenario des Manövers: Der fiktive Staat Bothnia besetzt eine Insel vor Estlands Küste und stößt mit 6500 Mann aufs Festland vor. In der Realität liegt dort, von wo aus Bothnia angreift, Finnland. Von den Finnen fühlt sich niemand bedroht. Schon in der Zeit des Manövers blickten indessen Polen und die baltischen Republiken nervös Richtung Russland. Schließlich hatten Russland und Weißrussland kurz zuvor ein gemeinsames Großmanöver auf der anderen Seite der Grenze abgehalten – mit 22 000 Soldaten fast viermal so viel wie die Nato.

Schon in der Vergangenheit Cyberattacken

Nach der Annexion der Krim durch Russland und den Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine fühlen sich die Nato-Länder Polen, insbesondere aber die baltischen Staaten in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Estland und Lettland beherbergen in ihren Landesgrenzen ebenfalls eine russischsprechende Minderheit – ähnlich der auf der Krim, der Präsident Wladimir Putin gerade zu Hilfe geeilt ist. Und Litauen umschließt die russische Exklave Kaliningrad. Alle drei Staaten sind in der Vergangenheit schon Ziel russischer Aktionen – von Cyberattacken bis zu Invasionsmanövern – geworden. Putin könnte nun versucht sein, so wird in den Ländern befürchtet, sich zum Beispiel einen Teil des russischsprachigen Lettlands anzueignen oder einen Korridor durch Litauen hindurch nach Kaliningrad zu schaffen.

Die Balten sind auch darüber besorgt, dass der Westen sie im Ernstfall womöglich gar nicht zu verteidigen bereit wäre. Der Grund: Westliche Nato-Verbündete, darunter auch Deutschland, nahmen die Warnungen ihrer östlichen Partner lange nicht ernst. Das Bündnis verzichtete zunächst sogar darauf, gegen einen möglichen Angriff auf ihre früheren Vasallen auch nur zu planen. Heute gibt es diese Pläne zwar, und es finden Manöver statt. Aber ist das eine glaubhafte Abschreckung? Bis heute sind ganze 136 der 66 217 in Europa verbliebenen US-Soldaten in Zentral- oder Osteuropa stationiert.

Putin hat in seiner Rede vor gut zehn Tagen signalisiert, dass er von einer Wiederherstellung eines Groß-Russlands träumt, dass Moskau dem „Hinterhof“ seinen Willen aufzwingen wolle. Russische Sprecher bekräftigen zwar, Moskau wolle keine Truppen in den Osten der Ukraine schicken. Ihr Aufmarsch spricht aber eine andere Sprache. Und das ist wohl die Absicht. Niemand weiß, wie weit Putin gehen würde.

Russische Militärausgaben stiegen seit 2004 um 79 Prozent

Der Nato-Oberkommandierende Philip Breedlove nannte die Lage an der Grenze „unglaublich besorgniserregend“. Mit seinen Truppen könnte Moskau in der Ukraine in drei bis fünf Tagen alle seine Ziele erreichen. Es gebe keine Anzeichen für den angekündigten Rückzug. Doch die Ukraine ist kein Mitglied der Nato. Und die russische Armee ist nicht mehr so stark, wie sie einmal war. Laut Experten ist die Zahl der russischen Soldaten seit 1990 auf eine Million zurückgegangen. Die Zahl der Panzerdivisionen schrumpfte von 46 auf fünf. Allerdings wurde die russische Armee zuletzt stark modernisiert. An die Stelle der Divisionen traten kleinere, aber flexiblere Brigaden. Unter Putin wuchsen die Militärausgaben seit 2004 um 79 Prozent. Ein schneller Angriff wäre durchaus denkbar. Spezialkräfte und Fallschirmjäger, wie sie auf der Krim zum Einsatz kamen, sind hoch professionell. In der Armee dienen aber auch viele Rekruten.

Deshalb halten es einige Experten für wahrscheinlicher, Moskau könnte anstatt einer großen Invasion eher versucht sein, die baltischen Staaten zu destabilisieren – durch Sabotageakte gegen das Eisenbahnsystem oder die Tötung von Russen durch bestellte Aufwiegler oder Cyberangriffe.

Das Bundesverteidigungsministerium erweist sich bei der Suche nach Antworten auf diese Gefahren als wenig hilfreich: „Nein, da helfen wir Ihnen nicht“, wird barsch die Frage unserer Zeitung nach aktuellen Studien zum militärischen Ost-West-Kräfteverhältnis beantwortet. Die selbstentwaffnende Begründung: „Das wäre nicht in unserem Interesse“, so der Sprecher.

"Die Nato könnte Europa vor den Russen verteidigen"


Die Ukraine-Krise sei besorgniserregend, meint der Sicherheitsexperte Christian Mölling von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Aber keine Panik: „Die Nato wäre in der Lage, Europa vor den Russen zu verteidigen“, beruhigt er. „Die Allianz könnte auch einen Angriff auf das Baltikum zurückschlagen.“

Doch was könnte die Nato tun, um eine weitergehende russische Aggression gegen seine neuesten Mitglieder im Osten abzuschrecken? „Das Bündnis sollte unmissverständlich klarmachen, dass all seine Mitglieder denselben vollen Schutz genießen“, sagt der US-Strategieprofessor Alan Gropman. Das hieße, die Präsenz der Nato im Baltikum und Polen wenigstens um eine kleinere Anzahl von Soldaten und Flugzeugen zu verstärken – über das bereits erfolgte Maß hinaus. Aber zugleich müsste auch klar sein, dass größere Einheiten folgen würden, falls Moskau mit seiner Aggression fortfahre. Gropman hält es für einen schweren Fehler, Putin nun nicht fest entgegenzutreten. „Jetzt ist es noch die günstigste Zeit dafür.“

Die offene Frage bleibt nur: Wie fest ist fest genug? Edward Lucas und A. Wess Mitchell vom Zentrum für Europäische Politikanalysen (Cepa) in Washington geben eine eindeutige Antwort: „Die Nato sollte die Verstärkung ihrer östlichen Flanke zu ihrer höchsten Priorität machen“, fordern die beiden Autoren in einer neuen Studie. Zu den vorgeschlagenen Maßnahmen gehören die permanente Verlegung von US-Bodentruppen aus dem bayerischen Vilseck nach Polen, ein erheblicher Ausbau der Luftabwehrkapazitäten in der Region, um mit der Modernisierung der russischen Streitkräfte auch auf diesem Gebiet mitzuhalten. Und sogar die letzten so umstrittenen taktischen Atomwaffen in Europa könnten in Osteuropa stationiert werden, meinen die beiden.

Von Putin lernen

Doch all das würde jede Menge Geld kosten. Und in den Augen der meisten befragten Experten ist es fraglich, ob die Europäer bei den Verteidigungsausgaben von ihrem Sparkurs abweichen würden. Sie könnten aber wenigstens endlich mit der lange vereinbarten verstärkten Verteidigungszusammenarbeit Ernst machen. Und auch die USA müssten trotz ihrer eigenen Sparzwänge und der Neuausrichtung nach Asien ihre europäischen Bündnisverpflichtungen wieder mit neuem Leben erfüllen, heißt es.

So hat Kremlchef Wladimir Putin quasi über Nacht an die alte Kernaufgabe der Nato erinnert: die territoriale Verteidigung seiner Mitglieder.