Weitingen ist vor der Zerstörung verschont geblieben. Unser Archivfoto zeigt den Ort in den 1950er-Jahren. Foto: Hermann Nesch

Vor 80 Jahren rückten die Franzosen in Weitingen ein und übernahmen die Verwaltung. Rechtzeitig vor der Beschießung wurde die weiße Fahne gehisst.

Am 18. April 1945 entging Weitingen nur knapp einer Katastrophe. Der Zweite Weltkrieg befand sich in seiner allerletzten Schlussphase. Es herrschte große Unruhe im Dorf. Ein Mann radelte durch die Straßen und kündigte an, dass die SS und eine Wehrmachtskompanie sich auf dem Weg nach Weitingen befänden, um sich hier festzusetzen.

 

Konfrontation schien unvermeidlich Lähmende Angst lag in der Luft. Jagdbomber flogen bereits über das Neckartal, und jenseits davon wimmelte es bereits von deutschen Soldaten. Die SS-Einheiten wollten sich von ihrem Befehl, Weitingen zu verteidigen, partout nicht abbringen lassen. Dass die Franzosen nicht mehr fern und weiter auf dem Vormarsch waren, wusste man. So schien die Konfrontation wohl unvermeidlich. Es ging bereits auch das Gerücht um, der Ort solle vollständig evakuiert werden. Große Angst und Sorge machten sich breit.

„Schmerzhafte Mutter Gottes von Weitingen“ angefleht Der katholische Dekan Karl Wagner veranlasste das tägliche Rosenkranzgebet, um die „Schmerzhafte Mutter Gottes von Weitingen“ um Schutz und Beistand anzuflehen. Gleichzeitig gab er mit seiner Gemeinde das Gelübde ab, wenn Weitingen von der Beschießung verschont bleibe, zum Dank in der Kapelle täglich den Rosenkranz zu beten.

SS-Angehörige richteten im Hof eine Feldküche ein Schon am Abend des 15. April tauchten SS-Angehörige auf und richteten im Hof von Bauer Josef Schweizer eine Feldküche ein. Bereits einen Tag später, am 16. April, rückten immer mehr Infanteriesoldaten nach. Am Abend durchquerte ein deutsches Artillerieregiment das Dorf, um sich über den Neckar nach Bierlingen abzusetzen.

Soldaten waren zur Verteidigung entschlossen

Die Feldküche wieder in Sicherheit gebracht Doch am Abend des 17. April zog die Feldküche bereits wieder ab, die man ja rechtzeitig in Sicherheit bringen musste. Der Rest der deutschen Soldaten war zur Verteidigung entschlossen, obwohl der eine oder andere von ihnen lieber seine eigene Haut hätte retten wollen.

Ein wachhabender französischer Besatzungssoldat vor dem Schaufenster vor der ehemaligen Werkstatt von Felix und Bruno Bok. Foto: Hermann Nesch

Verteidigen heißt, beschossen zu werden Der kritische Punkt war am 18. April, vor 80 Jahren, erreicht. Morgens um 9 Uhr war alles auf den Straßen, wie Zeitzeugen berichteten. Dekan Wagner und der sehr sprachgewandte und wortgewaltige spätere Domprälat am Stephansdom in Wien, Karl Dorr, der im Weitinger Pfarrhaus Unterschlupf vor der Gestapo gefunden hatte, wussten: Verteidigen heißt, beschossen zu werden! Es wurde noch schnell eine Messe gelesen und mit den SS-Leuten und den deutschen Landsern geredet.

Kompanieführung hatte keinen Rückzugsbefehl In eindringlichen Worten schilderten die Geistlichen die Lage und versuchten, die Kompanieführung zum Rückzug zu bewegen. Doch die Führung des versprengten Haufens weigerte sich, weil sie keinen Rückzugsbefehl erhalten hatte. Da tauchte ein unbekannter Mann mit der Nachricht auf, die bereits verminte und vom Volkssturm bewachte Neckarbrücke in Eyach solle gesprengt werden.

Rechtzeitig über den Neckar in Sicherheit gebracht Jetzt brach das große Chaos aus, und innerhalb einer starken Stunde war der ganze Spuk erledigt. Die deutschen Soldaten, die sich draußen am Friedhof und in der Halde postiert hatten, ergriffen panikartig die Flucht und stürmten hinunter ins Neckartal, um sich noch rechtzeitig über den Neckar in Sicherheit zu bringen.

Noch deutsche Soldaten im Ort vermutet

Zwei Scheunen geraten in Brand Die heranrückenden Franzosen, die noch einige Deutsche Soldaten gesehen hatten, schossen nun nach ihnen und auf einige Scheunen, in denen sie noch Deutsche vermuteten. Dabei gerieten die Scheuer des „Löwen“ und der „Möhrle-Schuppen“ (hinter dem Friedhof in Richtung Autobahn) in Brand.

Mit der weißen Fahne den Franzosen entgegen Währenddessen ging Karl Dorr mit ein paar Leuten in Richtung Rohrdorf und einer weißen Fahne den Franzosen entgegen und auf dem Kirchturm hängten zwei junge Burschen, Ottmar Müller und Gerhard Haid, zur großen Freude der Weitinger eine weiße Fahne zum Schallloch hinaus und dies, obwohl sich noch ein paar unverbesserliche SS-Angehörige in der Nähe der Kirche befanden.

Kanonen bereits auf Weitingen gerichtet Gerade noch rechtzeitig. Denn oben in Hochdorf waren schon die französischen Geschütze auf Weitingen gerichtet, um „das Nest zu beschießen“. Wer letztlich die weiße Fahne aus dem Kirchturm gehängt hat, darüber gibt es unterschiedliche Überlieferungen. Es sollen auch zwei junge Frauen im Auftrag von Dekan Wagner zumindest dabei gewesen sein. Aber offensichtlich herrschte angesichts der dramatischen Situation ziemliche Verwirrung.

In der Orgel der Pfarrkirche versteckt Gerhard Haid war ein Verwandter von Alois Kuon und junger Theologiestudent aus Hamburg, der Vorfahren in Weitingen hatte und sich viel im Pfarrhaus aufhielt. Er wurde von der SS fieberhaft gesucht. Doch er konnte sich in der Orgel der Pfarrkirche vor dem Zugriff verstecken.

Granate schlägt in der Haustüre ein

Deutsche Artillerie schoss noch gegen die Franzosen Übrigens wurde aus der alten Neckarbrücke gleich darauf ein großes Stück herausgesprengt und die deutsche Artillerie schoss noch gegen die Franzosen von Bierlingen nach Weitingen herüber. Ein Geschoss schlug dabei in der Haustür des heutigen landwirtschaftlichen Anwesens von Hermann Schweizer ein. Auch zwei weitere Häuser wurden leicht getroffen und etliche Obstbäume.

In Bierlingen gab es Tote und Verletzte Hätten Dekan Karl Wagner und der spätere Wiener Domprälat mit einigen jungen Weitingern nicht so beherzt gehandelt, hätte das Dorf das gleiche Schicksal wie Bierlingen erlitten, das am 19. April von den Franzosen bombardiert wurde, mit der Folge, dass 18 Menschen ihr Leben verloren, viele verwundet sowie 31 Häuser und fünf Scheunen zerstört wurden. In Weitingen wurden zwei Straßen im Ortskern nach Dekan Karl Wagner und Prälat Karl Dorr benannt.