Im Interview spricht der frühere Vize-Direktor des Mossad, Naftali Garnot, über die Lage in Israel, den Kampf gegen den Terror und die kommenden Tage im Krieg gegen die islamistische Terrororganisation Hamas.
Naftali Garnot kämpfte zuerst er in einer Spezialeinheit der Armee in ungezählten Einsätzen gegen Terroristen. Als einer der ersten überquerte er als junger Hauptmann im Yom-Kippur-Krieg 1973 den Suez-Kanal in einem Schlauchboot während des israelischen Gegenangriffs. Dann diente er 25 Jahre lang in israelischen Nachrichtendiensten. Zuletzt 2007 als Vize-Direktor des Mossad. Heute lehrt und forscht der 72-jährige zu Terrorismus an der Reichman-Universität in Herzliya. Zudem beriet und berät er die israelischen Regierungen.
Herr Garnot, Sie waren stellvertretender Direktor des Mossad. Wie konnte Israel so überrascht werden?
Es ist klar, dass wir in den ersten 48 Stunden dieses Krieges überrumpelt wurden und eine demütigende Niederlage erlitten. Wir haben auf drei verschiedenen Ebenen versagt. Das erste Versagen ist das Versagen der Nachrichtendienste: Wir waren nicht in der Lage, die Vorbereitungen der Hamas zu erkennen und unsere Truppen zu warnen.
Wie wird Israel mit dieser Erkenntnis umgehen?
Die Gründe für dieses Versagen werden zu einem späteren Zeitpunkt von einem Ausschuss geprüft. Wir verzichten aus gutem Grund darauf, so etwas während eines Konfliktes zu tun.
Welche Mängel sehen Sie schon jetzt, die zu diesem Desaster geführt haben?
Wir haben uns in den vergangenen Jahren zu sehr darauf verlassen, dass wir Informationen mit Cyber und technischer Aufklärung gewinnen. Das ist zu Lasten der Aufklärung durch Menschen gegangen, der HUMINT. Wir haben die gute Mischung der Verfahren aus den Augen verloren. Das Vertrauen auf Technik hat uns an den Punkt gebracht, an dem wir jetzt sind. Wenn der Feind entschlossen ist, seine Kommunikation über technische Mittel einstellt, dann wissen wir nicht, was er tun will. Das Einzige, was dann wirklich hilft, ist und bleibt der Mensch. Gerade wenn wir es mit fanatischen religiösen Terrororganisationen wie der Hamas zu tun haben.
Warum?
Es ist sehr schwierig, sie zu infiltrieren. Da lässt sich nicht so einfach mal jemand einschleusen.
Sie sprachen von einem Versagen auf drei Ebenen …
… genau. Das sind die Geheimdienste. Die zweite Ebene des Versagens liegt auf der operativen Ebene. Der vergangene Samstag war ein Feiertag in Israel. Ein Teil unserer Soldaten war zu Hause. Die Art und Weise, wie der Angriff am frühen Morgen an so vielen Punkten gleichzeitig stattfand, hat uns überrumpelt. Unsere Verteidigung brach zusammen. Das Konzept, sich auf den Grenzzaun zum Gazastreifen zu verlassen, nur eine begrenzte Anzahl von Soldaten dort bereit zu halten, brach in sich zusammen. Solche Verteidigungslinien neigen dazu, früher oder später zusammenzubrechen. Das wissen wir spätestens seit dem deutschen Vorstoß nach Frankreich 1940, bei dem die Maginotlinie umgangen wurde. So etwas lässt sich nur umgehen, wenn genügend mobile, flexibel reagierende Kräfte in Reserve sind. Das war am Samstag nicht der Fall.
Das bedeutet?
Wir müssen uns stärker daran orientieren, entsprechend den Fähigkeiten des Feindes zu kämpfen, anstatt nach seinen Absichten. Man kann nicht warten, bis man alle Informationen hat, um die Kräfte, die man hat, einsetzen zu können. Terroristen werden immer versuchen, ihre Absichten zu verbergen. Darin werden sie immer besser.
Die dritte Ebene des Versagens?
Die politische. Unsere Politiker sind davon ausgegangen, dass der Gouverneur des Gazastreifens das Wohlergehen und die wirtschaftliche Lage der Menschen im Auge hat. Dass er der Bevölkerung erlaubt, Waffen zu tragen und uns schon nicht angreifen werde. Dieser Glaube war und ist grundlegend falsch. Es gibt also eine ganze Reihe von Dingen, die wir jetzt überprüfen müssen.
Was macht dieser Angriff mit den Menschen in Israel?
Ich sage Ihnen ganz offen: Das ist verheerend. Sogar für mich, als jemandem, der sein ganzes Leben lang in der Armee und in Nachrichtendiensten gedient hat. Wir haben die Menschen in Israel im Stich gelassen. Ich denke, die richtige Art und Weise, die aktuelle Situation zu beschreiben, ist, dass die Menschen in Israel im Schockzustand sind. Sie sind verzweifelt. Sie haben das Vertrauen in das vielleicht Wichtigste verloren: Die Fähigkeit der israelischen Armee (IDF), sie zu verteidigen. Die Hauptaufgabe besteht nun darin, dieses Vertrauen zurückzugewinnen und zu beweisen, dass die Zivilbevölkerung sich auf die Arme verlassen kann.
Wie hoch ist das Risiko, dass die Hisbollah mit einer Bodenoffensive aus dem Libanon eine zweite Front im Norden Israels eröffnet?
Das ist eine Schlüsselfrage. Wir verfolgen das von Stunde zu Stunde. Bis jetzt zeigt die Hisbollah keine Absicht, sich so an diesem Krieg zu beteiligen. Sie hat im Moment kein Interesse, weil der Libanon wirtschaftlich völlig ruiniert ist. Das Ergebnis eines solchen Konflikts würde sein, dass Israel einen massiven Angriff gegen die Hisbollah und gegen die libanesische Infrastruktur durchführen würde. Deshalb haben viele dort ein starkes Interesse daran, nicht in einen Krieg verwickelt zu werden. Da spreche ich von den Christen und den Sunniten.
Der Iran zündelt auch im Libanon …
Ich glaube nicht, dass die Iraner ein Interesse daran haben, die schiitische Gemeinschaft im Libanon in diesem Stadium zu gefährden. Die IDF steht stark an unserer Nordgrenze. Die Hisbollah kann uns nicht überraschen. Nein, sie hat gegenwärtig kein Interesse daran, eine zweite Front zu initiieren. Was wir jedoch sehen werden, sind palästinensische Gruppen, die zum Islamischen Dschihad oder zur Hamas gehören. Sie beschießen uns aus dem Libanon mit Raketen, versuchen vom Libanon aus in Israel einzudringen. Damit soll die Hisbollah in ihren Krieg hineingezogen werden. Wenn man die Beziehungen zwischen der Hisbollah und den Palästinensern im Libanon versteht, weiß man, dass die Hisbollah es nicht zulässt, gegen ihre Interessen in den Krieg hineingezogen zu werden.
Hält das auch, wenn die IDF in den Gazastreifen einmarschieren wird?
Das wird sich zeigen. Ein Bodenangriff auf die Hamas wäre auch ein Schlag gegen den Widerstand, den sie den islamischen nennen. Ich kann mir vorstellen, dass die Hisbollah sich dann im begrenzten Maße aus Solidarität engagiert. Meiner Meinung nach werden sie sich aber nicht in einen ausgewachsenen Krieg hineinziehen lassen.
Wie engagiert sich der Iran in diesem Krieg?
Wir haben sehr solide Informationen, dass der Iran mit der Hamas und dem dschihadistischen Islam zusammenarbeitet. Sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland. Sie geben Geld, liefern Waffen, bilden Terroristen aus. Die Zusammenarbeit zwischen den iranischen Revolutionsgarden und der Hamas ist uns wohl bekannt. Gleichzeitig glaube ich nicht, dass die Hamas sich den Angriff am Samstag von der Hisbollah oder im Iran hat genehmigen lassen. Sie ist eine unabhängige, sunnitische Organisation. Alle Fraktionen eint nur ihre Agenda gegen Israel. Aber sie trauen einander nicht, sie lieben einander nicht. Und in bestimmten Situationen werden sie zu Feinden.
Werfen Sie einen Blick auf die nächsten sechs, sieben Tage.
Lassen Sie uns mit dem größeren Bild beginnen. Dieser barbarische Angriff zeigt, dass es der Hamas darum geht, alles Leben in Israel zu vernichten. Es kann und wird keinen Dialog geben mit Terroristen, die zur Zerstörung Israels entschlossen und dem verpflichtet sind. Trotz zahlloser Gespräche und Vermittlungsversuchen hat sich daran nichts verändert. Die Terroristen schießen weiter auf unsere Städte, jagen mit Messern und Autos die Menschen in unseren Straßen, ermorden sie. Niemand würde akzeptieren, was wir in den letzten zehn Jahren hingenommen haben. Deshalb müssen wir uns dieser Bedrohung entledigen.
Was bedeutet das?
Wir kämpfen gegen einen Feind, der ideologisch und kulturell entschlossen ist, Israel zu vernichten. Buchstäblich. Das sind nicht nur Worte. Es ist an der Zeit, die Hamas loszuwerden, sie zu vernichten. Die Frage ist, wie man das mit einem Minimum an Kollateralschäden und einem Minimum an Leid für die Zivilbevölkerung, die die Hamas unterstützt, erreichen kann. Eine solche Operation wird viel Zeit in Anspruch nehmen. Sie wird in einem dicht besiedelten Gebiet durchgeführt. Im Chaos. Das bedeutet Blutvergießen von allen Seiten, auch unter den Menschen, die die Hamas als Geiseln hält. Aber wir haben keine Alternative. Die Hamas hat kein Erbarmen mit ihren eigenen palästinensischen Brüdern und sie hat kein Erbarmen mit uns. Wir werden Vergeltung üben für das, was sie den Menschen in Israel angetan haben. Die Hamas ist wie der Islamische Staat (IS) geworden.
Was erwarten Sie in dieser Situation von Europa, von Deutschland?
So wie sich die westliche Welt nach den Anschlägen des IS in Paris und Brüssel zusammengeschlossen hat, um ihn zu zerstören, erwarten wir, dass die westliche Welt, Deutschland, die USA, Europa, uns unterstützen, diese enorme Bedrohung für die Menschen in Israel zu beseitigen. Wir werden in den kommenden Tagen etwas völlig anderes erleben, als das, was wir kennen. Wir werden in den nächsten Tagen in einen ausgewachsenen Krieg erleben.
Was bedeutet das?
Wir sind sehr, sehr stolz auf die Unterstützung, die wir bisher auch von Deutschland erhalten haben. Ich spreche von der Erklärung der Unterstützung für Israel. Ich spreche von der massiven öffentlichen Unterstützung der Deutschen für Israel angesichts dieser Gräueltaten. Wir verlassen uns darauf, dass Sie, die Deutschen uns weiterhin unterstützen und es uns ermöglichen, die Hamas zu stürzen. Früher oder später wird es viel Druck gegen Israel wegen dieser Operation geben. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Ihre Unterstützung mehr als alles andere brauchen. Was in den vergangenen Tagen in den Dörfern entlang des Gazastreifens passiert ist, erinnert einige Menschen in Israel an dunkle Tage in unserer Geschichte. Wir wurden abgeschlachtet – wie Schafe. Ohne Gnade für Kinder, Frauen und Alte. Das hat mein Volk seit 2000 Jahren immer wieder erlebt. In Anbetracht der guten, tollen Beziehungen zwischen unseren Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg: Ich vertraue darauf, dass Sie hinter uns stehen, wenn wir diese Bedrohung beseitigen.