Während der Parade auf dem Roten Platz in Moskau spricht Diktator Putin von toten und verwundeten russischen Soldaten. Das zeigt: Vor der Öffentlichkeit lassen sich seine Verluste in der Ukraine nicht mehr verstecken und schön reden, kommentiert Franz Feyder.
Die Stiefel sind auf Hochglanz poliert, die Panzer neu lackiert, Soldatinnen haben weiße Stoffblumen in ihre Pferdeschwänze geflochten – Motoren an, im Stechschritt Marsch! 11 000 Soldaten und 131 Fahrzeuge ließ Russlands Diktator Wladimir Putin in Moskau über den Roten Platz paradieren: Um an den Sieg der Sowjetunion über Nazideutschland zu erinnern; im Großen Vaterländischen Krieg, wie der Zweite Weltkrieg in russischen Geschichtsbüchern heißt.
Eine Parade wie die vorhergegangenen 53 zum 9. Mai, an dem in Russland des Kriegsendes gedacht wird – wegen der Zeitverschiebung nicht wie in Westeuropa am 8. Mai. Und doch war es ein ganz anderer Defiliermarsch: Die aus operativer Sicht in der Ukraine zum Stillstand gekommene russische Offensive legt nahe, dass die – mit Unterbrechungen – seit 1945 traditionell an sowjetischen und russischen Machthabern an diesem Gedenktag vorbeirollenden Waffen nicht mehr sind als Blendwerk. Eine Maskerade, mit der der Weltöffentlichkeit in den vergangenen Jahrzehnten Stärke vorgegaukelt wurde, die es nicht gibt, die es nicht gab.
Nichts, was sich Putin ausgedacht hätte: Am 15. Februar 1941 ließ der deutsche Panzergeneral Erwin Rommel im tunesischen Tripolis drei-, viermal die immer selben paar Dutzend Panzer an den Zuschauern vorbeirollen, um verbündeten Italienern und britischem Gegner Stärke vorzuspielen. Die Gaukelei verfing damals – und bis heute in der Ukraine.
Dort aber wird sichtbar: Mindestens 637 Kampfpanzer hat Putin bislang in der Ukraine verloren, 1034 Schützenpanzer, 255 Artilleriesysteme. Die russischen Verluste sind unvorstellbar, können nicht ersetzt werden: Bis zu 30 000 seiner Ende Februar 140 000 Mann starken Expeditionsstreitkraft könnten je nach Experte tot, verletzt, gefangen oder desertiert sein. Und: Entgegen der Meinung vieler Analysten hat der Diktator keine zweite Garnitur in Depots, die er auf ein modernes Schlachtfeld schicken könnte.
Vor diesem Hintergrund ist Putins Rede bei der Parade in Moskau zu hören: Präventiv habe Russland die Ukraine attackieren müssen, sagt er: „Der Block der Nato hat eine aktive militärische Einschließung der an unser Gebiet grenzenden Territorien begonnen.“ Wie einst Rommel seine Handvoll Panzer lässt Putin das ewig gleiche und erlogene Argument an der Öffentlichkeit vorbeiziehen. Dass das wie ein aus von einem Sprechzettel Hitlers kopiertes und ins Heute übertragene Wort scheint, macht es noch abscheulicher: Hitler hatte den Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 mit der Lüge begründet, er wolle mit dem Angriff einer sowjetischen Offensive gegen Deutschland zuvorkommen. Putins Phrase, er wolle in der Ukraine den Nationalsozialismus bekämpfen, „damit es keinen Platz mehr auf der Welt für Henker, Bestrafer und Nazis gibt“, ist angesichts des Massakers von Butcha, ungezählter vergewaltigter Frauen, verschleppter Ukrainerinnen und Ukrainern widerlich.
Und doch macht das Moskauer Spektakel Hoffnung: Die vielen in der Ukraine gefallenen russischen Soldaten, noch mehr Verwundete, lassen sich nicht mehr vor der Öffentlichkeit verbergen: Putin hat sie in seiner Rede erwähnt. Und so bestätigt, was die Frauen der Union der Komitees der Soldatenmütter Russland nicht müde werden zu erzählen: Unsere Söhne sterben in einem ebenso sinnlosen wie völkerrechtswidrigen Krieg. Mundtot lassen sich die Frauen selbst mit Repressionen nicht machen. Mit jeder Begräbnisfeier, mit jedem Verbandswechsel finden sie Gehör bei vielen Russinnen und Russen. Und gehören so zu dem Teil der russischen Gesellschaft, die ein neues Russland gestaltet, die Zeit nach dem Krieg in der Ukraine, die Zeit nach Putin.