Besucher aus aller Welt strömen seit Jahrtausenden in die Stadt. Ziel von Kreuzfahrtschiffen ist die türkische Megametropole erst seit kurzem. Die Folgen sind jetzt schon gewaltig.
Plopp, schließen die Türen der Trambahn und schneiden das Gedränge am Einstieg entzwei. „Noooo“, heult eine amerikanische Frauenstimme auf, während die Tram anfährt. Verzweifelt winkt die Amerikanerin ihren Reisegefährtinnen, die in der Menge auf dem Bahnsteig von Eminönü stecken geblieben sind. „I don’t know where to goooo,” schreit sie ihnen zu, doch da legt sich die Tram schon in die Rechtskurve über das Goldene Horn, und die Gefährtinnen sind weg. Rasch nehmen sich einheimische Passagiere der älteren Touristin an und fragen sie auf Englisch, wohin sie möchte. „To the ship“, erwidert die Amerikanerin erleichtert: Nach ihrem Abenteuer in Istanbul will sie nur noch zurück auf ihr Kreuzfahrtschiff.
Istanbul, vormals Konstantinopel und davor Byzanz: Besucher aus aller Welt strömen seit Jahrtausenden in diese Stadt auf zwei Kontinenten und zwischen zwei Meeren. Mit rund 20 Millionen Besuchern war Istanbul im vergangenen Jahr sogar die meistbesuchte Stadt der Welt, wie das Marktforschungsinstitut Euromonitor International ermittelte. Als Ziel von Kreuzfahrten ist die Megametropole am Bosporus aber neu dabei: Erst im dritten Jahr legen Kreuzfahrtschiffe in diesem Sommer mitten in Istanbul an. Die Kreuzfahrten haben die Stadt verändert.
Legt ein Schiff an, klappt die Uferpromenade hoch
Galataport heißt der neue Hafen für Kreuzfahrtschiffe. Der modernistische Komplex liegt am europäischen Ufer des Bosporus direkt am Zufluss des Goldenen Horns – eine Lage, die eine einzigartige Aussicht auf die Altstadt-Halbinsel mit ihren Kuppeln, Minaretten und Türmen bietet. Hagia Sophia, Blaue Moschee und Topkapi-Palast reihen sich rechter Hand auf; links ist die Bosporus-Brücke zu sehen, gegenüber das asiatische Ufer mit dem Leanderturm davor. Der Komplex aus Glas, Stahl und Beton umfasst hunderte Geschäfte und Restaurants, ein Luxushotel und seit letztem Jahr auch ein Museum für moderne Kunst.
Das Terminal für die Kreuzfahrten liegt unter dem Konsumtempel. Wenn ein Schiff anlegt, klappt die Uferpromenade hoch und wird zur senkrechten Mauer, die das Schiff abriegelt. Darunter kommt eine Rampe zum Vorschein, auf der die Passagiere hinabsteigen ins unterirdische Terminal. Haben sie unter der Erde ihre Einreiseformalitäten erledigt, werden sie auf einer Rolltreppe hochgefahren ins Tageslicht und in die Stadt entlassen. Passkontrollen, Zoll und Gepäckabfertigung verbrauchen dadurch kein wertvolles Gelände am Bosporus, und selbst der Verkehr von und zum Terminal wird unterirdisch abgewickelt, was den Anwohnern zusätzliche Staus erspart.
Riesenschiffe versperren die Aussicht auf die blauen Wasser
Das Konzept hat auch Nachteile für die Anwohner des Viertels. Solange ein Schiff im Hafen liegt und die Mauer hochgefahren ist, müssen Flaneure und Restaurantbesucher auf die Aussicht über das Goldene Horn verzichten und blicken auf die Mauer. Den Bewohnern ganzer Stadtviertel auf den Hängen über dem Bosporus versperren die Riesenschiffe ohnehin die Aussicht auf die blauen Wasser der Meerenge.
„Ich frage mich, wofür ich so viel Miete bezahle“, klagt ein Bewohner von Galata, der statt auf den Bosporus jetzt auf hunderte Kabinenfenster blickt. Nachbarn beklagen auch das laute Tuten, mit dem die Kreuzfahrtschiffe sich ankündigen, und den Swimmingpool, mit dem ein Luxushotel die Uferpromenade blockiert. Galataport sei für Kreuzfahrtpassagiere und ihre Devisen konzipiert, monieren Kritiker; der Komplex diene dem Umbau von Istanbul für privatwirtschaftliche Profitinteressen.
Lange bleiben die Riesenschiffe nicht in Istanbul
Nach der Pandemie im Jahr 2021 eingeweiht, ging der Galataport 2022 in Betrieb und hat sich seither auf den Mittelmeerrouten vieler Kreuzfahrt-Anbieter etablieren können. 250 Kreuzfahrtschiffe sind für dieses Jahr angemeldet, im vergangenen Jahr legten 200 Schiffe in Istanbul an und brachten eine halbe Million Besucher – wohlhabende Touristen, die ohne Kreuzfahrt wohl nicht gekommen wären, so wie die Amerikanerin in der Trambahn. Einmal sei sie auf eigene Faust nach Spanien gereist und fast verhungert, weil dort niemand Englisch gesprochen habe, erzählt die Touristin, die in rosa Crocs unterwegs ist. Seither macht sie nur noch Kreuzfahrten, wo sie sich um nichts kümmern muss.
Lange bleiben die Riesenschiffe nicht in Istanbul, die meisten fahren morgens ein und legen abends wieder ab. Die Lage des Galataport ermöglicht es den Passagieren, in der kurzen Zeit relativ viel von der Stadt zu sehen. Unternehmungslustige Reisende erreichen vom Terminal aus in fünf Fußminuten die Tram, die sie in die Altstadt bringt – mit je einer Haltestelle für die Galata-Brücke über das Goldene Horn, den Ägyptischen Gewürzmarkt, den historischen Endbahnhof des Orient-Express, den Gülhane-Park und h Hagia Sophia, Blaue Moschee, Hippodrom, Topkapi-Palast und den Großen Basar.
Historische Bauten werden in den Hintergrund gedrängt
Die oppositionsgeführte Stadtverwaltung widmet sich energisch der Restaurierung von historischen Bauten, die im Schatten der weltberühmten Bauwerke in Vergessenheit geraten sind, wie etwa der byzantinische Boukoleon-Palast in der Stadtmauer am Marmara-Meer. Andere historische Bauten werden in den Hintergrund gedrängt und vergessen, wenn nicht gar abgerissen, so wie im alten Hafenviertel Karaköy, wo nun der Galataport glitzert.
Unmittelbar hinter dem Kreuzfahrt-Terminal schleppen sich sonntags russische und ukrainische Emigranten in den Hinterhäusern baufälliger Herrenhäuser aus dem 19. Jahrhundert die Treppen hoch, um in versteckten Kirchenräumen unter dem Dach für die Rückkehr in die Heimat zu beten. Lange werden die Kirchen hier nicht mehr sein, ahnt man, während der Priester die orthodoxe Liturgie singt. Istanbul ist im Wandel.