Der Sportschütze (rechts) wird wegen Mordes zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Vor der Urteilsverkündung spricht er mit dem Dolmetscher und seinem Anwalt. Foto: Schulz

Prozess in Rottweil: Angeklagter muss wegen heimtückischen Mordes am Nachbarn für zwölf Jahre hinter Gitter.

Rottweil - Der Druck entweicht, nachdem alles vorüber ist. Soeben hat das Gericht das Urteil verkündet, es zweieinhalb Stunden erläutert. Mustafa Y. sitzt auf der Anklagebank. Er ist sichtbar gezeichnet. Von der monatelangen Untersuchungshaft, dem wochenlangen Verfahren. Er hört mit dunkelrot gefärbten Gesichtszügen zu, was die Dolmetscher ins Türkische übersetzen. Ab und an nickt er vielsagend, manchmal schüttelt er den Kopf. Seine Augen blitzen auf. Zwölf Jahre muss er ins Gefängnis. Wegen Mordes aus Heimtücke, so Karlheinz Münzer, der Vorsitzende Richter der Ersten Schwurgerichtskammer am Landgericht Rottweil.

Y. hat im Juli vergangenen Jahres in dem Wellendinger Ortsteil Wilflingen (Kreis Rottweil) seinen Nachbarn erschossen. Neun Kugeln hat er abgefeuert. Gleich der erste Schuss führte zu tödlichen Verletzungen. Es war der schreckliche Höhepunkt eines jahrelang schwelenden Nachbarschaftsstreits. Dieser entzündete sich an Umbauarbeiten in dem gemeinsam bewohnten Doppelhaus und eskalierte an diesem Sommertag deshalb, weil der Nachbar an der gemeinsamen Grenze werkelte.

Die Staatsanwaltschaft hatte in ihrem Plädoyer vor wenigen Tagen 13 Jahre gefordert. Wegen Totschlags in einem schwereren Fall. Die Nebenklage wollte Y. lebenslang hinter Gittern sehen. Die Verteidigung legte Wert auf ein "gerechtes Urteil" - eines, das man dem Angeklagten vermitteln könne. Neun Jahre solle die Obergrenze sein. Drei Jahre mehr sind es nun geworden.

Verurteilter fährt aus der Haut und beschimpft Landsleute

Der letzte Verhandlungstag ist am Dienstagmorgen zu Ende, Mustafa Y.s Schicksal besiegelt. Er wird von Polizisten und Justizbediensteten abgeführt. Er befindet sich gerade vor dem Sitzungssaal, als es aus ihm herausbricht. Er schimpft auf Türkisch auf eine Reihe von Landsleuten, die einige Meter entfernt am Treppengeländer steht. Schon einmal, während einer Verhandlungspause, ist der 39-Jährige aus der Haut gefahren, hat ins Publikum gekeilt.

Fühlt er sich etwa von seiner Familie im Stich gelassen? Und: Hat er hier sein wahres Gesicht gezeigt?

Er galt einerseits, am Arbeitsplatz und im Schützenverein in Wehingen (Kreis Tuttlingen), als zurückhaltend, ruhig und besonnen. Andererseits habe er irrational und cholerisch reagiert, wenn es um die Umbauarbeiten der Nachbarsfamilie in dem Doppelhaus ging. "Er hat sich hier verrannt, fühlte sich missverstanden, regelrecht verfolgt", äußert der Vorsitzende Richter. Dass Mustafa Y. kaum ein Wort Deutsch spricht, obwohl er seit zehn Jahren in Deutschland lebt, habe es ihm schwer gemacht, sich in seiner neuen Heimat zu integrieren, stellt der Richter fest. Er habe Gesprächen kaum folgen könne, seine Frau musste für ihn übersetzen.

Möglicherweise liegt in diesem Sprachdefizit das Grundübel. Münzer benennt immer wieder sprachliche Missverständnisse zwischen den beiden verfeindeten Männern.

So auch am Tattag. Als Mustafa Y. gegen 18 Uhr – aus dem Schlaf gerissen – ans Fenster im Obergeschoss seines Hauses tritt, sieht er, wie der Nachbar an der gemeinsamen Grenze arbeitet. Es kommt zu einem Streit, in dessen Verlauf Y. gehört haben will, wie er auf Türkisch als Zuhälter, seine Frau indirekt als Prostituierte, beschimpft worden sei. Ob die Worte tatsächlich so gefallen sind, daran zweifelt das Gericht erheblich. Münzer sagt jedoch, dass der Angeklagte selbst wohl davon ausging.

Die so verstandene Beleidigung indes ist ein gewaltiger Auslöserreiz. Mustafa Y. holt seine Sportpistole, Kaliber neun Millimeter, bestückt das Magazin mit neun Patronen, und geht runter zum Nachbarn. Nach einem weiteren kurzen Wortgefecht schießt er unvermittelt auf ihn. Der im Oberkörper Getroffene flüchtet ins Haus, der Schütze geht hinterher, schießt, bis das Magazin leer ist. Ein Schuss trifft den mittlerweile am Boden Liegenden ins linke Auge.

Mord aus Heimtücke

Die Schwurgerichtskammer ist überzeugt, dass Y. seinen Kontrahenten mit diesem Angriff überraschen wollte, er die Waffe daher zuvor bewusst versteckt hielt und dann schoss. Der Angeklagte habe die Arg- und Wehrlosigkeit seines Opfers ausgenutzt, so Münzer. Mord aus Heimtücke also. Einer jedoch, bei dem eine verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht ausgeschlossen wird. Es zeigt sich jedoch, dass der Fall nicht für eine wie auch immer geartete Islam-Debatte herhalten kann. Darauf hat die Staatsanwaltschaft hingewiesen. Das betont auch Münzer eingangs seiner Urteilsbegründung.

Erst vor Kurzem gab es einen öffentlichen Aufschrei, als ein Richter einen Deutsch-Afghanen, der seine schwangere Exfreundin umgebracht hatte, zu einer milderen Strafe verurteilte. Die Begründung des Gerichts: Der Täter habe sich "aufgrund seiner kulturellen und religiösen Herkunft in einer Zwangslange befunden". Sind deutsche Gerichte im Umgang mit muslimischen Tatverdächtigen generell zu milde?, wurde da gefragt.

Gericht schließt nicht aus, dass Y. eingeschränkt schuldfähig ist

Im Fall des Wilflinger Todesschützen verhält es sich anders, der Ramadan und das Fasten am Tattag spielen eine untergeordnete Rolle: Es ist ein ganzes Diagnosebündel von acht einzelnen Feststellungen, die dazu führen, an der vollen Schuldfähigkeit des Angeklagten zu zweifeln. Die körperliche und seelische Verfassung gehöre dazu, so Münzer. Des Weiteren leide Y. unter paranoiden Zügen und einer mittelschweren Depression, weswegen er zweimal in Behandlung gewesen sei. Die zunehmende Angst um seine Familie, der Streit am Fenster, die so verstandene Beleidigung, die er als Demütigung aufgefasst habe, hätten zu einer akuten Belastungsreaktion und zu einem "affektiven Ausnahmezustand" geführt, so Münzer.

Das Gericht ist sich keineswegs sicher, dass der Angeklagte tatsächlich eingeschränkt schuldfähig ist, kann das aber auch nicht ausschließen. In diesem Fall gilt der Rechtsgrundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten. Deswegen wurde keine lebenslängliche Freiheitsstrafe verhängt, sondern eine zwölfjährige Haftstrafe. In einer ersten Reation hat der Verteidiger, der die Tochter des Getöteten vertritt, von einem akzeptablen Richterspruch gesprochen.