Zu Beginn des jüngsten Missbrauchs-Prozesses kam es am Landgericht Tübingen zu einem juristischen Eklat. Foto: M. Bernklau

47-Jähriger soll seine Stieftochter vom siebten Lebensjahr an regelmäßig schwer missbraucht haben.

Kreis Calw/Tübingen - Was die Staatsanwältin dem 47-jährigen Mann vorwirft, klingt ungeheuerlich. Rund zehn Jahre lang soll er seine inzwischen 17-jährige Stieftochter regelmäßig schwerst missbraucht haben – das volle Programm. Nun begann der Prozess vor dem Landgericht Tübingen – mit Verzögerungen.

Erst mit anderthalb Stunden Verspätung konnte Staatsanwältin Edeltraud Hölscher ihre Anklageschrift verlesen. Sie listete 188 Fälle schweren Missbrauchs von Schutzbefohlenen auf. Schon mit dem siebenjährigen Mädchen soll er "den vaginalen Geschlechtsverkehr vollzogen" haben. Tatorte: die Wohnungen der Familie zunächst in Stuttgart, dann im Kreis Calw, im Sommer 2016 die Ferienwohnung in Kroatien und auch mal ein Waldweg.

Staatsanwältin weist jegliche Pflichtverletzung von sich

Paul R. spricht mit leichtem osteuropäischem Akzent. Er wirkt gepflegt und sehr muskulös. Auch reizbar. Wer der Angeklagte aber genau ist und wie er zu den Vorwürfen steht, das erfuhren die Prozessbeobachter einstweilen nicht. Denn dem Antrag des Pflichtverteidigers, für die Aussagen seines Mandanten zur Person und zur Sache die Öffentlichkeit wegen schutzwürdiger Belange seines Sexual- und Intimlebens auszuschließen, hatte die Große Jugendstrafkammer nach längerer Beratung stattgegeben.

Zuvor aber hatte der Vorsitzende Armin Ernst zwei Anträge der Wahlverteidigerin Olga Sommer abgewiesen. Der erste galt – nach einer abgelehnten Beschwerde bei der höheren Instanz in Stuttgart – einer Vertagung. Der zweite war eine Art Befangenheitsantrag gegen die Staatsanwältin, der die Trierer Anwältin vorwarf, ihre Arbeit und damit die Rechte des Angeklagten unzulässig behindert zu haben. Die Besetzung der Anklage allerdings obliegt ausschließlich dem Ermessen des vorgesetzten Behördenleiters, des Tübinger Oberstaatsanwalts Michael Pfohl.

Die Staatsanwältin wies jegliche Pflichtverletzung von sich, räumte aber ein, dass ihre Behörde es "nicht gern sehe", wenn sich auswärtige Rechtsanwälte verspätet "in laufende Verfahren hineindrängen". Bevor die Wahlverteidigerin die Sitzung verließ, beschlagnahmte die Kammer noch einen Umschlag, den ihr der Angeklagte als angebliche "Verteidigerpost" unauffällig zugesteckt hatte. Trotz dieses Eklats blieb der Vorsitzende souverän setzte den Prozess ungerührt fort.

Der Fall kam ins Rollen, als sich das damals 16-jährige Mädchen im Januar 2016 an seinen ersten Freund und dessen ältere Schwester gewandt hatte. Der Calwer Kriminalkommissar, der die Ermittlungen leitete, fasste als erster Zeuge auch grob die Ergebnisse der ausführlichen Vernehmungen des Mädchens durch eine junge Beamtin zusammen. Die Ermittler hielten die sehr detaillierten Angaben des Mädchen für "absolut glaubwürdig" und erwirkten einen Haftbefehl.

Nach einem Zwischenfall im Bad Liebenzeller "Polarion" war auch das Jugendamt eingeschaltet worden und hatte veranlasst, dass die Stieftochter des Angeklagten aus der Familie mit der Mutter und zwei jüngeren Halbbrüdern genommen wurde. Das Mädchen ist seither in der Obhut eines Heimes. Die "Polarion"-Kassiererin bezeugte, dass der Stiefvater das Mädchen mit Gebrüll und Zerren zum Mitkommen drängen wollte, als es dort mit einer Reihe anderer Mädchen und dem gleichaltrigen Freund zum Eislaufen war. Er soll da von den Vorwürfen erfahren haben, mit denen sich seine Tochter an den Freund und dessen Schwester gewandt hatte.

Seit November sitzt der 47-jährige in Untersuchungshaft

"Ganz in Panik und Angst", teils zitternd hätte die Gruppe verhindern wollen, dass die 16-Jährige sich dem tobenden und brüllenden Stiefvater beugt. Nachdem die Betreiber den Mann und das Mädchen zunächst im Shop des "Polarion" festgehalten hatte, habe sich die Tochter nach einem Telefonat mit der Mutter doch dem Willen des Stiefvaters gefügt und sei mitgegangen.

Die Ermittlungen kamen trotzdem ins Rollen. Seit November sitzt der 47-Jährige in Untersuchungshaft und bekommt regelmäßigen – überwachten – Besuch von seiner Frau, die sich offenkundig für ihren Mann und gegen ihre älteste Tochter entschieden hat. Sie soll, so die Anklage, schon als Achtjährige vergeblich versucht haben, sich der Mutter hilfesuchend zu offenbaren.