Die Krankenkassen wollen mehr Geld aus dem Finanzausgleich. Foto: dpa

Um mehr Geld aus dem Finanzausgleich zu bekommen, sollen die Krankenkassen den Ärzten nahegelegt haben, möglichst viele Diagnosen aufzuschreiben.

Berlin - Der Mann traut sich was. Und handelt sich dafür viel Ärger ein. Sehr freimütig hat Jens Baas, der Chef der Techniker Krankenkasse (TK), in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ eingeräumt, dass die Krankenkassen – und so auch die TK – bei den Daten für den Finanzausgleich schummelten. Die Kassen versuchten, Ärzte dazu zu bringen, für ihre Patienten möglichst viele Diagnosen aufzuschreiben, weil die Kassen dann mehr Geld aus dem Ausgleich bekämen: „Aus einen leichten Bluthochdruck wird ein schwerer. Aus einer depressiven Stimmung eine echte Depression, das bringt 1000 Euro mehr im Jahr pro Fall.“ Baas‘ Freimütigkeit hat nun die Aufsichtsbehörde, das Bundesversicherungsamt (BVA), auf den Plan gerufen. Man werde die TK auffordern, zu ihrem eigenen Verhalten in puncto Daten Stellung zu beziehen, teilte das BVA am Montag mit und fügte an: „Die Aussage, dass flächendeckend manipuliert werde, kann das BVA nicht bestätigen.“

Keine Verzerrung des Wettbewerbs

Über das Ausmaß der Schummelei sind die TK und das Amt also uneins. Dass getrickst wird, steht allerdings fest. Jedenfalls finden sich entsprechende Angaben in den Jahresberichten des BVA. Hintergrund des Ganzen ist eine Reform, die vor gut 20 Jahren der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) und die SPD vereinbarten. Sie sorgten dafür, dass jeder Versicherte entscheiden kann, zu welcher Kasse er geht. Nun gibt es aber Kassen, die mehr ältere Mitglieder und mehr Kranke in ihren Reihen und deshalb höhere Ausgaben haben. Um den Kassenwettbewerb nicht zu verzerren, sind deshalb im Finanzausgleich 80 Krankheiten definiert, für die jede Kasse aus dem Gesundheitsfonds eine Pauschale in Höhe der durchschnittlichen erwarteten Behandlungskosten bekommt. Zusätzlich gibt es vier verschiedene Zuschläge, die ebenfalls die Krankheitshäufigkeiten abbilden.

Große Kassen bekommen mehr Geld

Dieses faire und sinnvolle Verfahren – wer mehr Kranke versichert als eine andere Kasse, soll sich nicht schlechter stellen – stellt auch Baas nicht in Zweifel. Er meint jedoch, dass es „manipulationsresistent“ gemacht werden müsse. Dabei verfolgt der TK-Chef übrigens ein Eigeninteresse. Er meint, dass große regionale Kassen (damit meint er wohl, ohne sie namentlich zu nennen, die AOK) heute eine Milliarde Euro mehr bekämen, als sie tatsächlich für die Versorgung ihrer Versicherten benötigten. Die Ersatzkassen wie die TK hingegen erhielten 700 Millionen Euro zu wenig. Das BVA allerdings lehnt eine Reform des Ausgleichs ab. Und derzeit deutet nichts darauf hin, dass die Parteien Baas‘ Forderung folgen. Wie umstritten eine Reform des Finanzausgleichs wäre, zeigt die scharfe Replik des AOK-Bundesverbands auf Baas‘ Einlassungen. Diese, so die AOK, seien eine „vorgezogene Halloween-Aktion“, die die Bürger verunsichern solle. In Wahrheit gehe es der TK nur darum, ihre Position im Finanzausgleich zu verbessern.

Wie gesagt: Baas hat sich ordentlich Ärger eingehandelt. An einer Stelle allerdings spricht er einen echten und unstrittigen Mangel an. Das BVA, das keine „flächendeckenden Manipulationen“ sieht, ist flächendeckend gar nicht für die Aufsicht zuständig. Es kontrolliert nur die Kassen, die wie die TK, die Barmer/GEK oder die DAK in ganz Deutschland tätig sind. Die Aufsicht über die elf regionalen AOK und die meisten Betriebskassen führen die Sozialminister der Länder. Und obwohl Seehofer schon vor mehr als 20 Jahren durchsetzte, dass jeder Kassenversicherte freie Kassenwahl hat, fehlt bis heute ein einheitliches Regelwerk, das festlegt, wie das BVA und die Länder die Aufsicht über die Kassen führen.

http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.deutschland-betriebskrankenkassen- reform-des-finanzausgleichs-vor-wahl.60e84230-a6ec-41e8-b85a