Steht unter Druck: der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Foto: dpa/Efrem Lukatsky

Korruptionsskandale in Kiew werfen die Frage auf, wie es um die Demokratie in der bedrohten Ukraine steht.

Für Ursula von der Leyen ist der EU-Beitritt der Ukraine eine Frage der Zeit. „Es ist beeindruckend, mit welcher Leidenschaft, Hoffnung und Anstrengung das Land alles tut, um voranzugehen und sich auf die EU zu zu entwickeln“, sagte die Kommissionschefin im Deutschlandfunk. Man stehe bei den großen Reformvorhaben Seite an Seite mit der Ukraine: Binnenmarktreife, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung. Doch fast zur gleichen Zeit mit der Ausstrahlung des Interviews nahm die Polizei den Vizeminister für Infrastruktur fest. Er soll beim Ankauf von Stromgeneratoren fast eine halbe Million Euro kassiert haben. Auch im Verteidigungsministerium sollen Hunderte Millionen Euro „versickert“ sein.

Zugriff auf die „vierte Gewalt“

Ausgerechnet in zwei Bereichen, die im Kampf gegen die russische Invasion von zentraler Bedeutung sind, fließt Geld in dunkle Kanäle. Präsident Wolodymyr Selenskyj versuchte zwar, zu beschwichtigen. Er dankte den Medien, die zur Aufklärung beigetragen hätten, und kündigte „machtvolle Reaktionen“ an. Allerdings hatten die von Selenskyj hochgelobten Reporterinnen und Redakteure den Präsidenten zuletzt selbst ins Visier genommen. Wegen eines neuen Mediengesetzes, das in Kraft trat. Nach Ansicht des Journalistenverbandes werfen die neuen Regeln „den Schatten eines Diktators“ auf Selenskyj.

Das neue Mediengesetz sollte eigentlich den Einfluss der Oligarchen begrenzen und so der Annäherung an EU-Standards dienen. Allerdings erhält nun die Regierung über einen neuen Rundfunkrat Zugriff auf die „vierte Gewalt“. Und das ist nicht alles. Zuletzt ließ Selenskyj mehrere Großunternehmen verstaatlichen, darunter den Turbinenbauer „Motor Sitsch“ und den Lkw-Hersteller „Awtokras“, weil das Militär den Zugriff brauche. Die verstaatlichten Konzerne sind eng mit Oligarchen verbandelt, deren Macht der Präsident schon vor dem Krieg auszuhebeln versuchte.

Selenskyj regiert per Dekret

Seit fast einem Jahr gilt in der Ukraine das Kriegsrecht. Faktisch kommt das einer Aushebelung der verfassungsmäßig garantierten Grundrechte gleich. Es beginnt mit der Freizügigkeit. Wehrfähige Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht mehr verlassen – Härtefälle ausgenommen. Eingeschränkt sind zudem die Versammlungs- und Redefreiheit, das Recht auf Eigentum, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Brief- und Telefongeheimnis oder das Streikrecht. Wahlen und Referenden abzuhalten, ist sogar verboten. Sie wären in einem Land im Kriegszustand wohl auch schwer zu organisieren.

Das heißt aber auch: Dauert die russische Invasion 2024 an, wird sich Selenskyj nach fünf Jahren an der Staatsspitze nicht der regulären Wiederwahl stellen müssen. Er bleibt im Amt. Das gleiche gilt für die Abgeordneten der Obersten Rada – frm ukrainischen Parlament, in dem Selenskyjs Partei die Mehrheit hat. Alles liefe dann weiter wie derzeit: Die Rada verlängert das Kriegsrecht auf Antrag des Präsidenten alle drei Monate. Selenskyj trifft wesentliche Entscheidungen per Dekret. Dort sind Regierung und Parlamentspräsident vertreten, aber auch der Generalstab und die Geheimdienste.

Unantastbar ist jedoch die Verfassung. Änderungen sind verboten, unabhängig von jeder Parlamentsmehrheit. Zudem müssen alle Wahlen sofort nachgeholt werden, wenn dies wieder möglich sein sollte. Entscheidend ist nach Ansicht von Beobachtern , in welchem Geist die Verantwortlichen, während des Kriegsrechts handeln. Die Zweifel an Selenskyjs demokratischem Bewusstsein wachsen.