Weil es im Stadtparlament keine betonierte Koalition gibt, deutet die SPD ihre Schwäche um. „Unsere Stärke ist, dass ohne uns nichts geht. Das muss auch in Zukunft so sein“, sagt der frühere Kreisvorsitzende Andreas Reißig.
Stuttgart - In der Landeshauptstadt haben die Sozialdemokraten schon bei der Kommunalwahl 2009 erfahren, was den Genossen im Land erst 2011 blühte: Sie mussten sich mit Platz drei begnügen. In der undankbaren Rolle des Mehrheitsbeschaffers sehen sich die Sozialdemokraten im Rathaus trotz des 2009 neu erreichten Tiefpunkts – nur noch zehn statt zuvor 14 von 60 Sitzen – dennoch nicht, denn erstmals konnte im Rathaus eine öko-linke Mehrheit agieren.
Einen Erdrutsch wie 2009 hat die SPD in Stuttgart zuvor schon zweimal erlebt. 1975 verlor sie vier, 1984 gleich fünf Sitze. Die Grünen sprangen damals von einer Randgruppe mit drei auf zehn Sitze und erreichten doppelte Fraktionsstärke.
Weil es im Stadtparlament keine betonierte Koalition gibt, deutet die SPD ihre Schwäche um. „Unsere Stärke ist, dass ohne uns nichts geht. Das muss auch in Zukunft so sein“, sagt der frühere Kreisvorsitzende Andreas Reißig. Die SPD werde zulegen, glaubt Landessprecher Reißig, weil die Grünen für viele Wähler „zu bürgerlich“ geworden seien. Außerdem sei der Stuttgart-21-Negativeffekt weg.
Dem Bahnprojekt schreibt die SPD den seuchenhaften Verlust von Wählern zu. „Stuttgart 21 zerreibt die Partei“, konstatierte Fraktionschefin Roswitha Blind noch Ende 2012. Die Kommunalwahl 2009 habe in einer „historischen Situation“ stattgefunden, sagt Blind heute. Inzwischen wird gebaut, die SPD sieht die Lage an dieser Front daher beruhigt. Aber ist sie das? Ihr Kreisvorsitzender Dejan Perc entzog erst vor wenigen Wochen dem altgedienten Genossen Siegfried Bassler eben wegen S 21 das Parteibuch. Bassler tritt für die Linke an, weil sein Widerstand gegen den Tiefbahnhof weder im SPD-Orts- noch im Kreisverband mit einer Nominierung gewürdigt wurde.
Egal, wie die Wahl ausgeht, die SPD-Fraktion wird eine deutliche Auffrischung erfahren. Fünf der zehn heutigen Stadträte treten nicht mehr an, darunter Blind und der langjährige Fraktionschef Manfred Kanzleiter. „Es kommen spannende Profile dazu, wir werden uns auch inhaltlich neu aufstellen“, sagt Perc. Dynamik und Fachwissen des Spitzenkandidaten Martin Körner würden auch der Fraktion guttun. Perc will mit Listenplatz fünf einen Sitz erobern, um für eine bessere Zusammenarbeit zwischen Fraktion und Partei zu sorgen. Auch Perc bemüht die Formel von der Unverzichtbarkeit der SPD, die sich „fallweise“ ihre Mehrheiten suchen könne.
Mit der Nominierung von Martin Körner, der der Landtagsfraktion als Berater dient, wollte die Partei ein Signal setzen. Neben den klassischen SPD-Themen Wohnen, Familienpolitik und Bürgerbeteiligung will er neue setzen: Die Kreativwirtschaft brauche Unterstützung, für das Haus für Film und Medien wolle man Einsatz zeigen, die duale Ausbildung wiederbeleben. „Bald werden 9000 Fachkräfte fehlen, junge Menschen sollten sich nicht nur für das Studium interessieren“, sagt der 43-jährige Volkswirt.
Körner ist als Fraktionschef gesetzt. Von ihm soll das Signal zum Aufbruch ausgehen, das die SPD in Stuttgart endlich aus dem Keller in wieder lichtere Höhen führt. Dass es nach dem 25. Mai keinen Gegenkandidaten geben wird, ist noch nicht ausgemacht.
Fünf Jahre als Juniorpartner mit den Grünen bilanziert die scheidende Fraktionschefin Roswitha Blind mit gemischten Gefühlen. Die SPD habe sich früh für neue Stadtwerke verkämpft, für das Innenentwicklungsmodell mit einer Wohnbauquote gestritten, mehr geförderten Wohnraum und Baugemeinschaften durchgesetzt sowie Tempo 40 und 30 vor Schulen erreicht und mehr Radwege gefördert. Die Bilanz sei also positiv, sagt Blind: „Ich scheide nicht im Frust.“
In der Öffentlichkeit und selbst bei den eigenen Genossen kämen Erfolgsmeldungen aber kaum an. „Wir machen uns intensiv Gedanken, klären teils diskret im Hintergrund mit der Verwaltung Fakten ab und stellen dann Anträge“, beschreibt die Mathematikerin die Sacharbeit. Die Ernte in Form von Beifall und Stimmen aber sammelten die Grünen ein. Viele Erfolge würden der Öko-Partei zugeschrieben, ohne dass dieses die Ursprungsidee für sich beanspruchen könne, sagt Blind. Die SPD hat offenbar ein Vermittlungsproblem.