Anhänger der indischen Kongresspartei bei einr Wahlkampfveranstaltung Foto: dpa

Es ist eine Wahl der Superlative: Nie waren zu einer demokratischen Abstimmung mehr Menschen aufgerufen als bei der Parlamentswahl in Indien. Die größte Demokratie der Welt steuert dabei auf einen Machtwechsel zu.

Indien hat sehr viele Probleme. Die Diskrepanz zwischen Arm und Reich, verpestete Luft und vermüllte Straßen, Kinderarmut, Korruption und das Kastensystem, das eigentlich abgeschafft ist. In der größten Demokratie der Welt, in der nun 815 Millionen Menschen zur Wahl aufgerufen sind, ist das Leben kein leichtes. Vor allem für Frauen. Vor dem Gesetz sind Mann und Frau gleichgestellt, die Realität aber ist eine andere.

Seit mehr als einem Jahr macht Indien furchtbare Schlagzeilen. Im Dezember 2012 wurde eine Medizinstudentin in einem Bus in Neu-Delhi vergewaltigt. Sie erlag später ihren Verletzungen. Das Verbrechen löste Massenproteste aus. Die Todesstrafe bei Vergewaltigung mit Todesfolge wurde wiedereingeführt. Die Wahrnehmung Indiens hat sich verändert.

Ein Land, in dem bisher viele Touristen und auch Touristinnen die Erleuchtung, Yoga-Kniffs oder sich selbst finden wollten, war zu einem unsicheren Reiseziel geworden. Das friedliche Image von „incredible India“, „unglaubliches Indien“, so der Werbespruch – dahin. Und die Berichte über Verbrechen an Frauen häufen sich. In Mumbai wurde im Sommer 2013 eine 22-jährige Fotografin überfallen und vergewaltigt. Eine dänische Touristin wurde in Neu-Delhi vergewaltigt und eine deutsche Touristin in einem Schlafwaggon. Das Auswärtige Amt warnt: „Reisende sollten sich stets umsichtig verhalten.“ Im Jahresbericht des „National Crime Records Bureau“, des indischen Verbrechensregisters, wurden im Jahr 2012 knapp eine viertel Million Fälle von Gewalt gegen Frauen gemeldet. Die Dunkelziffer aber ist riesig. Denn nur wenige erstatten Anzeige.

Die Inder, die in den Metropolen leben, blicken gen Westen und wollen gerne so emanzipiert sein, wollen dieselben Markenprodukte, die Kaffeekapseln, für die George Clooney wirbt. Die Oberschicht kann sich das leisten und frönt in den voll klimatisierten Einkaufszentren dem Konsum. All das sieht man in Mumbai, der Partnerstadt Stuttgarts. Man sieht aber vor allem auch sehr viele arme Menschen, die vom Land kommen und in der Großstadt ihr Glück und ein besseres Leben suchen. Oder zumindest ein bisschen Geld, das sie nach Hause ins Dorf schicken können. Und man sieht, dass Männer und Frauen immer noch nicht dieselben Rechte haben. Das Patriarchat ist überall präsent – auch in Familien, die modern und liberal zu sein scheinen. Mädchen werden ausgesuchten Männern vorgestellt und verheiratet. Und häusliche Gewalt ist vor allem in ländlichen Gegenden ein großes Problem.

Aber die indischen Frauen werden immer moderner und fortschrittlicher – vor allem in den Megastädten wie Mumbai oder Neu-Delhi. „Die Frauen werden mächtiger“, sagt Sukhada Tatke, Redakteurin bei der Zeitung „The Hindu“. Und dennoch: Genau jetzt nimmt die Gewalt gegen das weibliche Geschlecht zu. Tatke meint, dass viele Männer Frauen als Sexualobjekte wahrnehmen. Sie selbst fühlt sich in ihrer Heimatstadt Mumbai sicher, sagt aber, sie passe in den Abendstunden besser auf, wenn sie unterwegs sei.

Gewalt gegen Frauen wird in Indien nicht mehr unter den Teppich gekehrt, sondern diskutiert – ausgehend von der Massenvergewaltigung in Delhi vor mehr als einem Jahr, die die Gesellschaft wachgerüttelt hat. Die Wut auf die Regierung wächst. Es könnte eng werden für die regierende Kongresspartei. Die Frauen wollen strengere Gesetze, ganz Indien soll ein sicherer Ort für Frauen sein. Doch bis dorthin ist es ein weiter Weg.

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