Jean-Claude Juncker Foto: dpa

Es kommt so, wie viele es erwartet haben. Dieselbe Prozedur wie immer: Nach der Europawahl geht der nationale Kleinkrieg um Einfluss, Posten und Personen los. Mit Finten, Drohungen und Finessen. Europa wirbt nicht mit neuen Köpfen, sondern mit alten Gesichtern.

Brüssel - Es kommt so, wie viele es erwartet haben. Dieselbe Prozedur wie immer: Nach der Europawahl geht der nationale Kleinkrieg um Einfluss, Posten und Personen los. Mit Finten, Drohungen und Finessen. Europa wirbt nicht mit neuen Köpfen, sondern mit alten Gesichtern.

Frankreichs Präsident windet sich, den heißen Atem der rechtsradikalen Front National im Nacken, den angeschlagen-siegreichen Spitzen-Konservativen Jean-Claude Juncker mitzutragen, wenn es um den Posten des EU-Kommissionspräsidenten geht. François Hollande will dort einfallslos einen Franzosen platzieren, um innenpolitisch die eigene Schwäche zu kaschieren und das immer stärker werdende rechtsnationale Lager zu narkotisieren. Der britische Premier soll sogar mit einem vorgezogenen Austritts-Referendum gedroht haben, sollte sich Juncker bei der Mehrheit der 28 Staats- und Regierungschefs durchsetzen. Auch David Cameron sucht sein Heil in der Konfrontation, um zu Hause den unberechenbaren EU-Gegnern entgegenzukommen. Beiden geht es darum, ihren Kopf zu retten. Um Europa geht es ihnen weniger.

Und die Bundeskanzlerin? Sie laviert, wartet ab, lässt sich drängen. Sagt mal hü und mal hott. Wohl zum ersten Mal in ihrer Regierungszeit hat sich Angela Merkel in eine Zwickmühle manövriert. Genüsslich können deutsche Sozialdemokraten in gespielter Entrüstung mahnen, sie möge doch bitte schön klare Position im Ringen um die wichtigsten EU-Posten beziehen; sich eindeutig auf ihren Spitzenkandidaten Juncker festlegen, so wie es ihr die SPD vorbildlich vormache. Merkel solle endlich Flagge zeigen, wenn auch nicht gerade die weiße.

Doch die Kanzlerin schwankt. Einerseits steht sie – obwohl es keinen Automatismus zwischen Sieg und Wahl gibt – gegenüber dem Europäischen Parlament mehr oder weniger im Wort, Juncker, den siegreichen Kandidaten, zum EU-Kommissionspräsidenten zu küren – und damit die demokratische Legitimation des bunten Parlaments wie vereinbart zu stärken. Sollte sie ihre laue Zusage dagegen zurückziehen, schadet sie Schwarz-Rot in Berlin und dem europäischen Zusammenhalt in Brüssel. Der Vorwurf, die Wähler zu täuschen, schösse zwar übers Ziel hinaus, bliebe aber hängen. Immerhin hatte sich Merkel vor der Wahl widerwillig auf Juncker festgelegt. Nach der Wahl kann sie ihn, wenngleich wiederum halbherzig, nicht einfach fallenlassen, schreibt doch der EU-Vertrag eine doppelte Mehrheit für den neuen Kommissionschef vor. Eine Konfrontation mit dem allzu selbstbewusst agierenden Parlament kann sich Merkel nicht leisten.

Aber natürlich ist auch das klar: Es wäre ein über den Tag hinaus gefährliches Debakel, sollte sich Merkel (und mit ihr andere Regierungschefs) ausgerechnet von einem erpressen lassen, der – wie die Briten – Europa weder versteht noch vorantreibt. Gäbe Merkel der britischen Drohung nach, käme das einem politischen Dammbruch gleich. Dann zögen Nationalinteressen wieder wie plündernde Horden durch Brüssel, würde die Europäische Union wieder zum nationalen Selbstbedienungsladen. Wer wie Cameron bereit ist, diese letzte Karte zu ziehen, beweist damit, dass er schon jetzt nur noch auf dem Papier zur EU gehört.

In den kommenden vier Wochen wird es vor allem darauf ankommen, welche Akzente Merkel in Brüssel zu setzen weiß. Die Große Koalition in Berlin könnte dabei auch in Brüssel ein Vorbild sein. Denn es hängt nicht zuletzt von der deutschen Kanzlerin ab, wie sich die EU in den nächsten Jahren präsentiert: als Spielball innenpolitischer Egoismen oder als ein parteiübergreifendes Zukunftsmodell.

w.molitor@stn.zgs.de