Umjubelter Tsipras Foto: ANA-MPA

Nach dem Referendum steckt die EU in der selbstgeschaffenen Zwickelmühle: Bricht sie mir ihren Prinzipien, oder bricht sie mit Griechenland? Der verhassten Regierung Tsipras kommt das Verdienst zu, die EU zur Beendigung des jahrelangen Durchwurstelns gezwungen zu haben.

Stuttgart - Stellen Sie sich vor, Sie seien Regierungschef von Griechenland. Ihr Staat ist praktisch pleite, und auf den Straßen Ihres Landes gibt es immer wieder Randale. Da kommt ein Anruf aus Brüssel. Sie denken, man will Ihnen helfen. Stattdessen werden Sie in barschem Ton aufgefordert, endlich Ihre Finanzen in den Griff zu bekommen. Wie Sie das hinkriegen, sei Ihre Sache, heißt es. Notfalls müssten Sie halt die Sozialausgaben zusammenstreichen, die seien eh viel zu hoch. Man gibt Ihnen zu verstehen, dass es den anderen Staaten peinlich sei, mit Ihnen in einem Boot zu sitzen, und dass die ganze Welt Ihretwegen einen Bogen um den Euro macht.

Weil Sie Brüssel nicht enttäuschen wollen, denken Sie ernsthaft nach: Wenn Sie die Ausgaben zusammenstreichen, bekommen Sie von der EU einen Orden. In Ihrem Land gibt es dann aber noch mehr Arbeitslose, in den Straßen brennen die Autos, und spätestens bei der nächsten Wahl sind Sie Ihren Job los. Ihr Nachfolger macht alles wieder rückgängig, und Sie haben Ihren Job für nichts und wieder nichts verloren. Also werden Sie einen Teufel tun, hart zu sparen. Sie kündigen das zwar an, damit die lästigen Anrufe aufhören. Aber letztlich müssen Sie sich vor Ihren Bürgern rechtfertigen und nicht vor der EU. Die sollen Sie schließlich wieder wählen.

Leider löst das noch nicht Ihr Problem, dass Sie nämlich kein Geld haben, um Ihre Schulden zu bezahlen. Doch einem nackten Mann kann man nicht in die Taschen fassen. Deshalb gehen Sie zu den anderen Regierungschefs und fordern Geld, damit es dem Euro wieder bessergeht. Die finden das zwar unverschämt, merken aber schnell, dass sie keine Wahl haben. Deshalb zahlen Ihre Kollegen und nuscheln zähnefletschend etwas von Solidarität in die Kameras. Wenn Sie einmal in Brüssel zu Besuch sind, werden Sie in den Bürofluren ein leichtes Knirschen hören. Das kommt davon, dass die Beamten hinter den Türen in ihre Schreibtische beißen.

Warum haben Hilfen in elfstelliger Höhe dem Land nicht geholfen?

Diese Zeilen sind - ausnahmsweise - nicht aktuell, sondern sie sind in dieser Zeitung schon einmal erschienen: Im Jahr 2010, als Griechenland erstmals um Hilfskredite bat. Die Lage hat sich seither nicht grundlegend verändert - mit einem Unterschied: In der Zwischenzeit sind Hunderte von Milliarden an das Land geflossen: In Form von Hilfspaketen in elfstelliger Höhe, in Form eines Schuldenschnitts von gigantischen Leistungen des Euro-Zahlungssystems und auch in Form des Versprechens von Notenbank-Chef Draghi, notfalls Billionenbeträge in die Wagschale zu werfen, um Staatspleiten zu verhindern. Heute muss man ernüchtert feststellen: Geholfen hat es den Griechen nicht - im Gegenteil: Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, die Verschuldung so hoch, dass sie nie und nimmer zu tragen ist. Und statt Dankbarkeit schlägt den Rettern blanke Wut entgegen. Der Ausgang des Referendums zeigt, dass die Kritiker nicht nur eine lautstarke Minderheit sind, sondern dass sie auch eine Mehrheit der Bevölkerung auf ihrer Seite haben.

Man kann nun wieder und wieder die wechselnden griechischen Regierungen kritisieren, die sich hinter einer Opferrolle verstecken und auf die Verträge pochen, die sie selbst mit Füßen treten, indem sie die Reformauflagen, denen sie selbst zugestimmt hatten, einseitig aufkündigen. Doch wer mit dem Zeigefinger auf andere zeigt, weist mit den anderen Fingern auf sich selbst. „Scheitert der Euro, scheitert Europa“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel ein ums andere Mal. Bei Europa gehe es um „Krieg und Frieden“. Sie hätte auch sagen können: Wer gegen den Euro ist, ist gegen Europa und den Frieden. Und wer Griechenland nicht um jeden Preis retten will, genauso. Genau das machten sich die Regierungen zunutze. Wenn Europa alles daransetzt, das schiffbrüchige Griechenland zu retten - warum sollte Griechenland sich dann selbst verausgaben, um über Wasser zu bleiben?

Auch die anderen griechischen Regierungen haben sich der EU verweigert – doch sie verhielten sich geschmeidiger

Auch wenn die EU jetzt ihren ganzen Frust bei Ministerpräsident Alexis Tspiras ablädt - seine Regierung ist bei weitem nicht die erste, die sich den Reformauflagen hartnäckig verweigert. So schrieb der konservative Politiker Antonis Samaras bereits im Jahr 2012, kurz vor seiner Wahl zum Regierungschef, einen Brief nach Brüssel, in dem es hieß: „Falls wir die Wahl gewinnen, werden wir auch weiter zu dem Programm, seinen Zielen und Schlüsselmaßnahmen stehen.“ In seinem eigenen Land sagte er dann auch, warum: Nur bei einem Ja „können wir später die Politik, die uns aufgezwungen wurde, neu verhandeln“. Das Land soll dem Plan also nur zustimmen, um ihn später ablehnen zu können.

Frühere Regierungen verhielten sich gegenüber Brüssel so geschmeidig, dass die EU die Ohnmacht mit viel Geld kaschieren konnte, die sie durch ihr überzogenes Europa-Pathos selbst herbeigeführt hatte. Sie ließen die EU immer wieder gegen Gummiwände laufen, wenn sie den Auflagen ausweichen wollten, und fast immer bekamen sie, was sie wollten: Jahrelange Zahlungsaufschübe, Zinssenkungen, Rettungspakete, Schuldenkürzungen, Liquiditätshilfen - immer auf Kosten der anderen Länder, deren Bürger pro Kopf rechnerisch mit einer deutlich vierstelligen Summen belastet werden.

Ohne Tsipras würde die EU noch jahrelang so weiterwursteln

Vorführen ließ sich die EU schon immer - doch die Regierung Tsipras verweigert sich den Auflagen nun so offensichtlich, dass Brüssel sich dies nicht länger gefallen lassen kann. Ohne Tsipras hätte die EU vielleicht weitere fünf Jahre so weitergewurstelt wie seit 2010. Sein Verdienst ist es möglicherweise, Europa diesen allzu bequemen und immens teuren Weg versperrt zu haben. Wegschauen und zahlen - diese Option gibt es nicht mehr. Sie hat mit zu der Lage geführt, in der sich Europa heute befindet.