Ukrainische Sicherheitskräfte stellen sich en Demonstranten in Kiew in den Weg Foto:  

Die Lage in Kiew spitzt sich immer mehr zu: Die Regierung erhöht den Druck auf die Demonstranten und verstärkt die Sicherheitskräfte in der Hauptstadt. Die Ukraine steht vor einer neuen Revolution, sagt Politikredakteur Winfried Weithofer.

Die Lage in Kiew spitzt sich immer mehr zu: Die Regierung erhöht den Druck auf die Demonstranten und verstärkt die Sicherheitskräfte in der Hauptstadt. Die Ukraine steht vor einer neuen Revolution, sagt Politikredakteur Winfried Weithofer.

Stuttgart - Nein, Tote hat es noch nicht gegeben bei den Protesten in der Ukraine, aber das Land steuert auf eine gefährliche Eskalation im Kampf um die Macht zu. Der Ausgang ungewiss. Viel wird davon abhängen, zu welchen Mitteln einerseits Staatsmacht greift, um sich aus der Defensive zu befreien und ob es – andererseits – der demonstrierenden Opposition gelingt, ihren Druck auf das Regime ohne Gewaltexzesse aus den eigenen Reihen aufrechtzuerhalten.

Es müssen allerdings die Ukrainer selbst sein, über ihren Weg zu bestimmen. Die akute Gefahr ist ja, dass der Konflikt zu einem Gerangel um Einflusssphären zwischen Russland und der EU ausartet. Das Prinzip der Nichteinmischung haben beide Seiten schon missachtet. Mag dies vor dem Hintergrund der enormen geostrategischen Bedeutung der Ukraine bisher noch in erträglichem Rahmen geschehen sein, so ist doch nicht garantiert, dass es so bleibt. Das Land muss rasch wieder zur Ruhe kommen, um nicht noch tiefer zu sinken.

Im Blickpunkt steht ein politischer Quereinsteiger: Vitali Klitschko. Als Boxer kann er hart austeilen, als Anführer der Opposition sind indes andere Qualitäten gefragt – und auch die beweist Klitschko derzeit zur Genüge. Er hat es mit einigem Geschick geschafft, die Schlagkraft der Opposition zu erhöhen – er agiert unerschrocken und mit Augenmaß, ihm gebührt das Verdienst, die Wut der Regimegegner kanalisiert und die Machthaber in Bedrängnis gebracht zu haben. Klitschko – ein Mann der Zukunft.

Die Frage freilich ist, ob er die Heißsporne im eigenen Lager ausreichend zügeln kann, um der Staatsmacht keinen Vorwand für einen härteren Repressionskurs zu bieten. Man darf davon ausgehen, dass die Hardliner in der Führung nur auf einen günstigen Moment warten, um gegen die Demonstranten loszuschlagen. Klitschko muss aufpassen: Wenn zornige Ukrainer Schaufelbagger gegen Polizisten steuern oder ein Lenin-Denkmal umstürzen, könnte für viele Landsleute, die er für seinen Kampf braucht, eine Grenze überschritten sein.

Dabei spielt die Zeit eigentlich für Klitschko. Die Empörung über das Janukowitsch-Regime, das das Land in den Beinahe-Bankrott getrieben hat, und die Begeisterung für die EU scheint keine Grenzen zu kennen. Dass Hunderttausende auf die Straße gehen, um für ein Abkommen mit der Europäischen Union zu demonstrieren, ist ein eindeutiges Votum pro Europa. Darüber kann Moskau nicht einfach hinwegsehen.

Es scheint, als wären die Demonstranten auch von alten Versäumnissen getrieben. 2004, als die Revolution in Orange das Land aufwühlte, hatten sich Millionen aufgemacht, um nach jahrzehntelanger Lethargie demokratische Reformen zu erzwingen. Ihre politische Führung – Julia Timoschenko als Regierungschefin und Viktor Juschtschenko als Präsident – hat den Sieg jedoch in eitler Selbstüberschätzung verspielt. Timoschenko läuft Gefahr, sich in der aktuellen Situation schon wieder zu wichtig nehmen.

Dabei braucht das Land einen Politiker an der Spitze, der für Ausgleich und Aufbruch steht – glaubwürdig und unvoreingenommen. Klitschko befindet sich da in der Zwickmühle – er drängt Richtung EU, darf aber auch die Russen nicht verprellen. Die Ukraine ist existenziell abhängig von russischen Energielieferungen, und die Wirtschaft könnte ohne die Produktion für den russischen Markt kaum existieren. Die Integration in Europa hat aber oberste Priorität. Die alten Kader in Kiew haben sich dieser Wahrheit zu lange verschlossen. Deshalb müssen sie gehen.