Wie Innehalten im Alltag das Tun und Treiben verändert, erlebt unsere Kolumnistin derzeit während eines Wohnstipendiums in Basel.
Alles, das mich gerade umgibt, atmet Privilegien: von den Holzdielen in der Farbe von Cognac über den jahrhundertelang ausgetretenen Steinboden in Flur, Küche und Bad, dessen verwaschenes Dunkelrot sich an Türbögen und gemauerten Simsen wiederholt, bis hin zur Lage des uralten Bürgerhauses, das ich für den Rest des Jahres bewohnen darf: es liegt nah am Basler Münster, dessen Glockenklänge meinen Tag strukturieren, wenn ich am Tisch sitze und arbeite. Ich habe das Wohnstipendium einer großzügigen Stiftung erhalten und soll im Augenblick nichts anderes tun als schreiben. Mein Lieblingsplatz ist ein alter Sessel am Fenster, das hinaus auf die Gasse zeigt. Jedes Mal, wenn ich mich auf ihm niederlasse, fällt ein Strohhalm aus der Polsterung. Hat sich auf dem Boden ein Häufchen gebildet, stopfe ich alles vorsichtig zurück. Schräg gegenüber liegt das Naturkundemuseum, weiter unten eine Schule und ein Kinderhort. Mittlerweile erkenne ich an der Tonlage, wer dort unten entlangläuft. Gegen Ende des Sommers waren viele Touristen unterwegs, ich hörte Italienisch und Französisch, amerikanisches Englisch und Schwyzerdytsch.
„Du dummer Mensch!“
Seit die Schule begonnen hat, beobachte ich eine Kindergruppe mit bunten Ranzen, die mittags vom Unterricht zurückkehrt. Wie häufig im Grundschulalter überragen zwei Mädchen die Jungen um Kopflänge. Schweigsam bemühen sich die beiden Gefährtinnen, den Attacken der Buben zu widerstehen, die sie schubsen, am Rucksack festhalten oder sie von hinten anspringen und schreiten würdevoll vorwärts, müssen sich aber schließlich hinter ein geparktes Auto retten. Endlich wehrt sich die Kleinere, packt den Frechsten, schleudert ihn weg und schreit: „Du dummer Mensch!“ Wenn sie sich vertragen, singen sie im Vorbeirennen gemeinsam ein Lied, das ich leider nicht verstehe.
Am häufigsten fällt mein Blick auf einen älteren Herrn, der einen mittelgroßen Hund ausführt, ein sandfarbenes Tier, hochbeinig, fuchsohrig, mit spitzer Schnauze. Der bejahrte Rüde verweigert regelmäßig unter meinem Fenster das Laufen, bleibt stehen und schaut zu Boden. Sein Besitzer zerrt nicht etwa an der Leine, er beugt sich herunter, tätschelt ihm die pelzige Flanke, spricht ein paar Worte – und wenn der Spaziergang nach dieser Aufmunterung nicht weitergeht, stellt er sich so auf, dass der Hund zwischen seinen eigenen langen Beinen steht wie zwischen zwei dünnen Säulen, umhüllt von flattrigem Anzugstoff. Das gefällt ihm nicht, denn er setzt sich wieder in Bewegung. Nach diesem Intermezzo setzt das Paar seine Runde fort. Nicht nur ich beobachte diesen geduldigen Trick gern. Oft halten Passanten inne, geben ihren Kommentar ab, lächeln, Kinder staunen, und wenn alle sich erneut ihren eigenen Geschäften zuwenden, habe ich immer das Gefühl, sie tun das auf stillere, behutsamere Weise als zuvor.