Die Kochkunst des Kanderners Gerhard Kramer-Eichin blieb seinen Kriegskameraden ein Leben lang unauslöschlich im Gedächtnis. Vor 70 Jahren kehrte er aus dem Krieg heim.
In den Einträgen eines Gästebuchs kommen überwiegend Dank und Wertschätzung für den Gastgeber zum Ausdruck. Häufig sind solche Bücher in Restaurants, Hotels, Galerien und Museen ausgelegt. Meistens werden positive Bewertungen über Speisen und Getränke, Unterkunft oder gelungene Präsentationen in Ausstellungen niedergeschrieben. Einige Eintragungen enthalten aussagekräftige Gedanken, die zutreffend das Erlebte wiedergeben. Nicht selten finden sich in den Anmerkungen aber auch abgedroschene Formulierungen, die nichtssagend und langweilig ein Geschehnis beschreiben. Oftmals geht es auch mit einer unleserlichen Schrift einher. Gelegentlich wird versucht, den Text in Reimform abzufassen, was in Einzelfällen durchaus gelingt, mitunter jedoch kläglich scheitert.
Ein einzigartiges Gästebuch erhielt der ehemalige Eigentümer des historischen Kanderner Gasthauses „zur Weserei“ Gerhard Kramer-Eichin (1920 bis 1996) im August 1959 zum Geschenk. Auf der ersten Innenseite springt einem gleich der vielsagende Satz ins Auge: „Gewidmet von Kameraden aus schweren Tagen“. Unterschrieben ist die kurze Zeile von sieben Weggefährten, mit denen Kramer-Eichin den sicherlich entbehrungsreichsten Teil seines Lebens verbracht hatte.
Seine Zeit in Stalingrad
Er und seine Kameraden dienten in der legendären 6. Armee. Sie gehörten zu den wenigen deutschen Soldaten, welche die Strapazen des Ostfeldzugs und der Schlacht um Stalingrad überlebten. Im eisigkalten Winter 1942/43 wurde das deutsche Heer von den Sowjets vernichtend geschlagen. Anschließend folgte für Gerhard Kramer-Eichin und seine Kameraden die jahrelange Gefangenschaft in Stalingrad und in weiteren sieben Lagern im Nordkaukasus und der Südregion, die bis zu 700 Kilometer Luftlinie von der russischen Stadt an der Wolga entfernt lagen.
Besonderheit erlangte das Gästebuch durch die Eintragungen von weiteren 70 Kriegskameraden in den Jahren 1959 bis 1989, die ebenfalls zu den Überlebenden zählten und nacheinander aus russischer Kriegsgefangenschaft ab 1950 heimkehrten.
Sie alle besuchten in den folgenden drei Jahrzehnten sein Gasthaus in Kandern und freuten sich, dass auch er noch aus der russischen Gefangenschaft entlassen wurde. Kramer-Eichin gehörte zu den letzten zehntausend deutschen Kriegsgefangenen, die Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876 bis 1967) zehn Jahre nach Kriegsende 1955 aus Russland zurück in die Heimat holte.
Dieser historischen Leistung voraus gingen zähe Verhandlungen zwischen dem ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und den einstigen russischen Machthabern, dem sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolai Bulganin (1895 bis 1975) und dem Generalsekretär der KPdSU Nikita Chruschtschow (1894 bis 1971).
In bester Erinnerung
Allen Kriegskameraden blieb in bester Erinnerung, wie es dem Kanderner jederzeit in vorzüglicher Art und Weise gelang, wohlschmeckende Speisen aus den wenigen verfügbaren Nahrungsmitteln zu zaubern. Diese Tatsache hatte in der Gefangenschaft einen sehr hohen Stellenwert und lässt sich mit den heute jederzeit erhältlichen Lebensmitteln, mannigfachen Zubereitungsmöglichkeiten und üppigen Essensgewohnheiten nicht annähernd vergleichen.
Im Lager der Kriegsgefangenen herrschte unvorstellbare Not bei der Versorgung mit Nahrung. Hunger und Durst gehörten zum alltäglichen Überlebenskampf. Häufig erschöpfte sich die Nahrungsaufnahme in einer dünnen, wässrigen Suppe. Daher trug eine von Gerhard Kramer-Eichin meisterlich gekochte warme Mahlzeit bei der Verpflegung seiner Leidensgenossen wesentlich dazu bei, die schwere Zeit im Gefangenenlager etwas erträglicher zu machen.
Es blieb der Lageraufsicht nicht verborgen, dass dieser Koch fortwährend Erfolg hatte, die Gefangenen mit schmackhaften Speisen zu verköstigen. Die Führung des Lagers entschloss sich daher, ihn so lange in Einzelhaft zu nehmen, bis er endlich die unbekannten „dunklen Kanäle“ zur Beschaffung seiner Nahrungsmittel preisgab.
Ausschlaggebend für diese strenge Maßnahme, ihn in den „Bau“ zu stecken, war ein feiner Hefezopf, den er gebacken hatte. Die Russen wollten unbedingt von ihm erfahren, wo er die darin befindlichen Rosinen herhatte. Aber das Gebäck enthielt gar keine Rosinen.
Er verwendete ganz klein gewürfelte Rote Bete, kandierte sie und fügte sie dem Teig bei. Die zuckersüßen Stückchen sahen nicht nur aus wie getrocknete Weinbeeren, sondern schmeckten auch so. Die Gefangenen waren von diesem vorzüglichen Leckerbissen hell begeistert. Hier kam Kramer-Eichins abgeschlossene Ausbildung zum Konditor allen zugute.
Zwölf Jahre Gefangenschaft
Erst am 11. Oktober 1955 kehrte Gerhard Kramer-Eichin unter Glockengeläute beider Kirchen in seine Heimat zurück. Die Stadt gab ihm zu Ehren einen großen Empfang unter Mitwirkung der Stadtmusik Kandern. Ein Weggefährte, Oberstleutnant Manfred Freiherr von Plotho (1908 bis 1987), gehörte ebenfalls zu den erst 1955 Entlassenen aus russischer Kriegsgefangenschaft. Der Baron trug sich beim Besuch in Kandern mit einem großen Kompliment im September 1960 ins Gästebuch ein: „Dem Koch von Stalingrad Dank und Anerkennung für seine wirklich ungewöhnliche Bewirtung.“
In allen Einträgen kommen nicht nur seine Kochkünste in einem für alle „Stalingrader“ bitteren Lebensabschnitt zum Ausdruck, sondern in besonderem Maße auch die überaus große Wertschätzung und Anerkennung, die er aufgrund seiner gelebten Kameradschaft erfahren durfte.
Gerhard Kramer-Eichins hervorragende Küche erhielt schon ab Ende der 1950er-Jahre weit über Kandern und die Region hinaus höchstes Lob. Sein Restaurant entwickelte sich zu einem angesehenen Feinschmeckerlokal und tauchte mit seinem guten Namen in den einschlägigen Gourmetführern regelmäßig auf.
Hochgeschätzter Koch
Im Jahr 1974 wurde ihm eine besondere Auszeichnung zuteil. Die internationale gastronomische Gesellschaft der „Confrérie de la Chaîne des Rôtisseurs“ mit Sitz in Paris nahm ihn als würdigen Vertreter der gehobenen Esskultur in ihren Reihen auf. Diese weltweit anerkannte Vereinigung ist der hohen Kunst des Kochens verpflichtet und fördert die Aufrechterhaltung gastronomischer Werte.
Er starb am 4. November 1996 im Alter von 76 Jahren nach einer bemerkenswerten Karriere als hochgeschätzter Koch, Hotelier und Gastronom. Sein historisches Gasthaus „zur Weserei“ war ein Aushängeschild der Stadt.