Wo einst die Messe stand ist nun viel Platz auf dem Killesberg. Foto: Ostertag

Ein Einwand gegen die Tabula-rasa-Mentalität nicht nur, aber gerade in Stuttgart.

Stuttgart - Tabula ist die antike, die römische Schreibtafel. Tabula rasa ist die "abgeschabte Schreibtafel", das darauf Geschriebene beseitigt. Übertragen auf andere Sachverhalte bedeutet Tabula rasa, Vorhandenes restlos auslöschen, um an seiner Stelle ohne Vorgeprägtes radikal anderes zu setzen.

Der expressionistische Schriftsteller Carl Sternheim greift das Thema 1916 in seinem Schauspiel "Tabula rasa" auf und karikiert die philisterhafte, "wohlanständige" bürgerliche Gesellschaft, die in ihrem Streben nach Macht geistige und soziale Wüsten hinterlässt. Übertragen auf den Städtebau heißt dies, Areale, Grundstücke, Stadtboden von allem Bestehenden restlos freizuräumen. Was entsteht, sind Brachen.

Die Vorgeschichte

Wer Stuttgart 1945 erlebte, dem bleibt die durch die enthemmte, perfektionierte Technik des Bombenkriegs "freigeräumte" Innenstadt im Gedächtnis. Wer Stuttgart in den Jahren 1945 bis 1953 erlebte, erinnert sich nicht weniger an die Beseitigung der meisten noch verbliebenen Ruinen - und damit die Maximierung der Stadt als Brache. Wer Stuttgart in den 1960er und 1970er Jahren erlebte, erinnert sich ebenso an die Aufteilung der Innenstadt durch wiederaufgebaute Gebäude, Neubauten und temporäre Bauten, an die Zerschneidung durch Verkehrsschneisen. Brachen wurden so in einer neuen Qualität provoziert - als Ergebnis einer verkehrsorientierten Aufteilung der einst zusammenhängenden Stadt, ihrer Quartiere, ihrer Adern. Wer Stuttgart in den 1980er und 1990er Jahren erlebte, sieht noch heute die Vergrößerung der Verkehrsschneisen, erinnert sich an die Beseitigung der temporären Bauten und das Schaffen neuer Brachen durch Abriss wiederaufgebauter Gebäude.

Und wie ist es in der Gegenwart? Im Schatten der Diskussionen um das Verkehrs- und Städtebauprojekt Stuttgart 21, das in seiner Kernidee eine fußläufige Neuverbindung zwischen dem Stuttgarter Norden und dem Stuttgarter Süden kennzeichnet, erleben wir eine von aller öffentlichen Kritik ausgenommene Brachen-Produktion.

Messe Killesberg

Das Gelände der früheren Messe Killesberg zwischen Straße am Kochenhof, Strese- mann-, Thoma-Straße, Adolf-Fremd-Weg wurde von allen an seine Geschichte erinnernden Bauten und Objekten geräumt - und in eine reale Brache verwandelt. Ein Teil der Messebebauung der 1980er Jahre, die Messehalle 6 an der Kochenhof-/Stresemannstraße, die Reste der Halle 7, die auf den Fundamenten der "Blumenhalle" der Reichsgartenschau 1939 errichtet wurde, in der Tausende Menschen jüdischen Glaubens 1941 bis 1944 zusammengetrieben und von dort in den sicheren Tod deportiert wurden, das Relief "Weinfreuden" des Bildhauers und Lehrers an der Kunstakademie, Alfred Lörcher, von 1949 wären wert gewesen, als Texte des begehbaren Gedächtnis der Stadt erhalten zu bleiben, um den Menschen die Geschichte, das Gedächtnis des Areals zu vermitteln. Doch dafür fehlt in dieser Stadt das Wissen, die erforderliche Sensibilität.

Quartier S/Das Gerber

Das Gebiet zwischen Tübinger, Sophien-, Marien-, Paulinenstraße soll nach dem Willen der Investoren abgeräumt werden. Dies ist kein Quartier mit architektonischen Spitzenleistungen, doch es weist Stuttgart-charakteristische Spuren und Gebäude auf, mit brauchbaren Grundproportionen, erträglichen Bauhöhen. Dort finden sich Reste der alten Stadtmauer, das Ensemble der Methodistengemeinde und das Eckgebäude Tübinger/Sophienstraße. Die Tübinger Straße, eine der ältesten Straßen Stuttgarts, historische Verbindung nach Süden, Mörikes Hutzelmännlein verließ dort die Stadt. Sie ist eine der wenigen verbliebenen Straßen Stuttgarts, die in Straßenbreite, Höhe der begleitenden Bauten noch eine Ahnung sinnstiftender Straßenräume der europäischen Stadt des 19.Jahrhunderts aufweist - und ist damit ein Ort erinnernder Vergangenheit, in dem unser kollektives Gedächtnis eingebrannt ist.

Karlsplatz

Das "Quartier Karlsplatz", Da Vinci genannt, zwischen Dorotheen-, Holz-, Sporer- und Münzstraße soll restlos freigeräumt, die darauf befindlichen Gebäude, auch das ehemalige Hotel Silber, Sitz der Gestapo-Leitstelle bis 1945, Inbegriff der NS-Schreckensherrschaft in Stuttgart, sollen abgerissen werden. Ein Quartier, das schon längst hätte geordnet, aufgewertet werden sollen. Auf diesem innerstädtischen Areal, früher mehr als 25 Grundstücke umfassend, sollen jetzt zwei massive Blöcke entstehen, die nichts mehr mit dem Ort zu tun haben. Wo früher die Auflistung der Eigentümer eines Quartiers Seiten im Grundbuch in Anspruch nahm, genügen heute wenige Zeilen. Auch so bilden sich gesellschaftliche Vorgänge ab.

Stuttgart-Ost

Die bestehende Wohnanlage zwischen Wagenburgstraße 149-153 und Talstraße soll abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden. Ein sozial und städtebaulich-architektonisch bedeutsames Quartier, ein Stück Stuttgarter Arbeiterbewegung der 1920er wird verschwinden.

Bosch-Areal entging knapp dem Abriss

A-1-Areal am Hauptbahnhof

Die Fläche zwischen Heilbronner Straße, Wolframstraße, Hauptbahnhof und Gleisanlagen wurde schon vor Jahren, im Vorgriff auf die städtischen Entwicklungsflächen von Stuttgart 21, von darauf befindlichen Gebäuden kahlgefegt, obwohl selbst auf diesem Speditions- und Bahngelände noch Stuttgart-typische Bauten standen, etwa das Gebäude der Firma Schenker, bauliche und technische Elemente der Bahnnutzung, die durchaus in der Lage gewesen wären, in die Neubebauung einbezogen zu werden. In der Vermarktung durch die Bahn AG ergibt sich seitens der Stadt nur in einem ständigen zähen Ringen die Möglichkeit, den reinen Massenbau infrage zu stellen.

Stuttgart 21

Im Rahmen des Verkehrs- und Städtebauprojekts Stuttgart 21 sind neben dem 1928 als drittem Bahnhofsneubau eingeweihten Hauptbahnhof von Paul Bonatz weitere 15 unter Denkmalschutz stehende Gebäude, Objekte und Parkanlagen gefährdet. Man kann nur ahnen, wie schwierig es werden wird, ein mögliches neues Stadtquartier Rosensteinviertel aus einer Brache heraus (den heutigen Gleisanlagen) zu entwickeln. Dies ist kaum vorstellbar, wenn man auf dem Weg dorthin kulturelle, soziale und im kollektiven Gedächtnis ererbte Landschaft nur abräumt.

Lesebuch Stadt

Einzelaspekte müssen genannt werden: Das Bosch-Areal und das Alte Schauspielhaus entgingen knapp dem Abriss, einzig das Engagement von Einzelpersonen und Bürgerinitiativen verhinderte eine weitere Tabula-rasa-Realität. Städte aber müssen als Gewachsenes, Wachsendes, ständig in Veränderung Befindliches, jedoch als etwas Unverwechselbares, Einmaliges, bestehend aus mannigfaltigen Gebäuden, Straßen und Plätzen unterschiedlicher Entstehungszeiten verstanden und betrachtet werden. Daraus erwächst der Charakter der jeweiligen Stadt als ein Zusammenspiel der geografischen Gestalt und der historischen Überprägung. Der Charakter einer Stadt bleibt gewahrt durch Beachtung und zeitgemäße Interpretation dieses Beziehungsgefüges, also auch eines Stuttgart-Musters. Wie bei einem Buch zwischen den Inhalten der Seiten müssen zwischen den Elementen einer Stadt Zusammenhänge, durchaus auch überraschende, bestehen, damit die Lektüre verstanden wird, Spaß macht, spannend und interessant ist. Jede Stadt kann als offen liegendes, räumlich, atmosphärisch sinnlich erleb- und interpretierbares Lesebuch verstanden werden. Dessen Lektüre gibt uns die Gewissheit, in einer bestimmten Stadt zu Hause zu sein.

Zusammenhänge denken

Im 19. und bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurden innerhalb einer Generation fünf Prozent der bestehenden städtischen Substanz ausgewechselt, durch Neues ersetzt, im Zweiten Weltkrieg in wenigen Jahren fast 100 Prozent, nach 1945 bis heute innerhalb einer Generation bis zu 50 Prozent. Wie wenn aus einem Buch auf einmal viele Seiten herausgerissen werden. Nicht nur die Architekten, wir, die Gesellschaft, haben verlernt, in Zusammenhängen zu denken und zu handeln. Wir haben verlernt, Spuren des Vorhandenen, der Vergangenheit, der Geschichte zu integrieren, einzubeziehen, um damit den Menschen die Geschichte, das Gedächtnis und die Erinnerung der Stadt zu vermitteln. Es entstehen meist radikal neue Quartiere - und damit eine Stadt, deren "Sprache" keinerlei Bezug zu Raum, Zeit, Geschichte hat. Mit der Technokraten- und Investorenmoderne geht vieles verloren: die Räume, die Raumfolgen, der Charakter, die Atmosphäre, das emotionale Stadterlebnis, die Stadt als Lesebuch, ja, auch die Geschichte unserer Existenz in dem jeweiligen Stadtteil.

Vorläufiges Fazit

Die Stadt ist Denk-, Kultur- und Lernwerkstatt. Geschichte, Gedächtnis und Erinnerung muss an vielen Orten der Stadt wahrnehm-, erleb- und deutbar sein. All dies, soweit es noch vorhanden ist, bestehen bleiben oder/und neu geschaffen werden. Die Methode des Tabula rasa, die Strategie der Beseitigung, ist dafür völlig ungeeignet. Das Auswechseln ganzer Quartiere und damit das Herstellen von Raum- und Sinnbrachen zerstören das Beziehungsgefüge der Stadt.

Wir sollten auch in Stuttgart vieles, allzu vieles nicht mehr dem Zufall, dem Markt und Investoren überlassen, die sich in ihrer Bilanz besser auskennen als in unserer Stadt. Wie aber kann in der Leere wieder Welt, wieder Stadt entstehen? Wir müssen die Strategie der kleinen, stufenweisen Schritte in die richtige Richtung lernen, keinen radikalen Austausch, nur behutsame qualitative Änderungen vornehmen, auf die, neben die vorhandenen Schichten der Geschichte eine neue Schicht realisieren. Die Stadt denken und machen für die Menschen von heute.

Aus unserem städtischen Erbe, unserem "begehbaren Gedächtnis" schöpfen die Menschen ihre Erinnerung, altdeutsch mit Heimat, neudeutsch mit Identität bezeichnet. Als Übereinstimmung mit sich selbst, als Person wie als Kollektiv. In diesen Werten und Kräften suchen die Menschen, suchen wir Menschen Halt.

Veranstaltungen zum Thema

Die Architektenkammer Baden-Württemberg bietet unter dem Titel "Z 21 - zukunftsfähige Stadtentwicklung für Stuttgart" eine Diskussionsreihe an. Nächster Termin ist am kommenden Donnerstag, 18. April, im Haus der Architekten in Stuttgart (Danneckerstraße 54). Zum Thema "Stadt und Leben" skizziert Sascha Zander (Zanderroth Architekten, Berlin) die Möglichkeiten von Baugruppen.

"Wem gehört die Stadt?" ist die Frage, wenn das Staatsschauspiel Stuttgart heute die Reihe "Stuttgarter Gespräche" fortsetzt. Zu Gast hat Intendant Hasko Weber die Direktorin des Kunstmuseums Stuttgart, Ulrike Groos, und den SPD-Politiker und Architekten Peter Conradi. Beginn in der Türlenstraße ist um 20 Uhr.

"Rosenstein - wir gestalten unsere Stadt von Morgen" lädt die Stadt Stuttgart ein - unter: www.rosenstein-stuttgart.de