Der Schauspieler Alex Junge als Kostja, und Kostja. Foto: Staatstheater/Björn Klein

Fünf Tage lang haben Künstler beim ersten Innovationslabor Zukunft im Stuttgarter Kammertheater mit der neuen KI-Technologie gespielt. Und gibt es nun ein Fazit?

Der deutsche Schriftsteller Thomas Melle ist am Samstagabend nicht zur Lesung seines Buches „Die Welt im Rücken“ auf der Probebühne des Stuttgarter Kammertheaters erschienen. Statt seiner sitzt ein ihm nachgebildeter Roboter im Sessel, in schwarzen Hosen zu weißem Hemd und dunklem Pullover. Der Androide ist fülliger als der schlanke Melle, aus seinem Hinterkopf wuchert Kabelsalat. Dafür kann das Double sogar mit Melles Stimme sprechen; er besitzt dessen nachgeformte Hände und aus Silikon dessen Gesicht. Im Verlauf von einer Stunde erzählt dieser Melle 2.0 von der Motivation seines biologischen Alter Egos, sich in der Produktion „Uncanny Valley/ Unheimliches Tal“ der Künstlergruppe Rimini Protokoll als mechatronische Version seiner Selbst auf Bühnen setzen zu lassen. Melle ist nicht nur Schriftsteller, er leidet auch unter einer bipolaren Störung, bei der manische mit depressiven Phasen wechseln.

 

Befreit von der Last, funktionieren zu müssen

Der Androide befreit Melle von der Last, öffentlich funktionieren zu müssen. Melle kann mithilfe des Doubles sagen, was er zu sagen hat, ohne selbst anwesend sein zu müssen. Das ist zwar aufgrund des titelgebenden „Uncanny-Valley“-Effects gruselig, aber auch sehr spannend. Interessant ist, wie nach einer Weile des Zuhörens die vom Robotiker Masahiro Mori erstmals beschriebene Akzeptanzlücke beim Publikum schwindet, hier einer Maschine und nicht dem menschlichen Original zuzuhören.

Es gehe nicht darum, ob die KI intelligent sei, sondern darum, wie klug der Mensch die Technologie benutze, hatte der Informatiker Bernhard Schölkopf vom Max-Planck-Institut in Tübingen am Eröffnungsabend des ersten Innovationslabors Zukunft gesagt. Die Workshops, Gespräche und künstlerischen Präsentationen haben eindrucksvoll vermittelt, wie dieser Umgang in künstlerischen Kontexten derzeit aussieht. Nicht alle Kunstschaffenden sehen die Technologie so positiv wie Thomas Melle in der Präsentation von Rimini Protokoll.

Arbeitsplätze vernichten? Oder naiv sein?

Die katalanische Fundación Épica La Fura dels Baus beschreibt den Einsatz von KI als zweischneidiges Schwert. Mit Hilfe der App Kaliope versetzt das Kollektiv sein Publikum als Geschworene in einen Prozess um den Hersteller der fiktiven Designmarke „Pantagruelische Möbel“, der angeklagt wird, für seine Produkte geschützte Hölzer aus dem Regenwald zu verwenden. Ohne den Einsatz von KI wäre die das Publikum einbeziehende, immersive Performance so nicht möglich. Gleichzeitig wird das Publikum im Versuch, die Wahrheit aus dem in der App präsentierten Beweismaterial heraus zu filtern, permanent manipuliert. Schlussendlich lässt sich nicht unterscheiden, welche Beweise echt sind und welche gefälscht wurden. Ein Schuldspruch gegen „Pantagruelische Möbel“ würde tausende Arbeitsplätze vernichten, ein falscher Freispruch ermöglicht dagegen den weiteren Raubbau im Amazonasgebiet. Eine harte Entscheidungsprobe für das Publikum, das hier lernt, wie verheerend sich allzu naives Technologie-Vertrauen in der Realität auswirken kann.

Dem Theater als Live-Kunst kann KI dagegen kaum schaden, führt Wilke Weermann in seiner grimmig lustigen Kafka-Adaption „Die Verwandlung des Gregor Samsung“ vor.

Der künstliche Vater fragt immer das selbe

Weermann fabuliert, wie eine mit Informationen gefütterte KI in Vertretung des erkrankten Regisseurs Kafkas berühmten Text über den von Arbeit und Familie entfremdeten Gregor Samsa für die Bühne bearbeitet, mit einem Ensemble aus Avataren, das im Computer ein von der KI gesteuertes Eigenleben simuliert. Auf einem riesigen Screen erscheint die Wohnstube von Familie Samsung, die nur aus tickenden Uhren zu bestehen scheint. Überhaupt produziert die KI nur merkwürdigen Textsalat. Den Avataren steht bloß ein begrenztes Inventar an Sätzen und Gesten zur Verfügung. „Hast du das von Brigitte?“, will etwa die Mutter wissen, und der Vater fragt stoisch: „Heute ist Montag, oder?“.

In Weermanns Inszenierung ist der KI-Irrsinn zum Schreien; in der Realität würde es solch ein Quatsch aber wohl nie ernst- und dauerhaft auf einen Spielplan schaffen. Im Feld der Musik fällt die KI allerdings weit weniger negativ auf, berichtet der Jazz-Pianist Roberto Di Gioia, der auch Pop-Größen wie Max Herre produziert. Di Gioias Präsentation einer mit weiblicher KI-Singstimme interpretierten Ballade jagt Schauer über den Rücken, so zart und empathisch klingt der Vortrag. Trotzdem zeigt sich Di Gioia optimistisch, der Mensch suche in der Musik weiterhin das Menschengemachte. Dass massenwirksamer Pop aber auch schon vor der KI auf eingängige Muster und bekannte Stanzen setzt, wischt Di Gioia bei Seite. Was passiert, wenn technischer Fortschritt die KI bald dazu befähigt, kalkuliert Unperfektes hervorzubringen, wie Bob Dylans ikonisch nölenden Gesang, wagt der Musiker nicht zu denken.

Kann Kostja ewig leben?

Die letzte aller Fragen wird im Stück „Kostja“ gestellt: Kann man eine verstorbene Person online ewig leben lassen, wenn man ihre Gedanken, Gefühle und Eigenarten in einer Cloud speichert? Die Antwort lautet ja, klingt in der Regie von Alessa Bollack aber bitter. Alex Junge spielt den lebensmüden Kostja als aufgekratzten Steve Jobs der Digital-Afterlife-Industrie, der sich realen Lebenshärten entzieht, um als schmerzbefreite, jedoch einsame digitale Kopie aufzuerstehen. Die auch technisch anspruchsvolle Inszenierung mit animiertem Avatar reizte das Publikum oft zum Lachen, als sei das bloß verquere Science-Fiction, die niemand ernsthaft wolle. Dabei suchen manche Trauernde schon jetzt den Trost der Avatare.